Die Kalte Sofie
hatte, zum Niederknien. Langsam faltete sich das Dach zusammen.
»Jetzt müsste ich nur noch wissen, wo dieses Zuhause ist«, sagte er an der ersten Ampel.
»Giesing«, sagte Sofie. »Zugspitzstraße.«
»Die Heimat von Kaiser Franz?«
»Bingo. Meine Tante hat sogar mit ihm die Schulbank gedrückt.«
»Ein vielversprechendes Viertel. Dahin würde ich auch gern ziehen. Lieber heut als morgen.«
»Klingt ja nicht gerade so, als wären Sie mit Ihrer derzeitigen Wohnung besonders happy …«
Charly nickte. »Mein Makler hat mir diese Unterkunft damals hochtrabend als Schwabing-Nord verkauft. Aber unter uns: Es ist schlicht und einfach Milbertshofen.«
Beide lachten.
Auf einmal spürte Sofie, wie der Druck dieses anstrengenden Tages nach und nach von ihren Schultern glitt. Charly Loessl drückte eine Taste. Die warme Stimme von Sade erklang.
»Kann ich noch immer hören«, sagte er. »Sie auch?«
Sofie nickte.
Er schien zu spüren, dass sie keine große Lust zum Reden hatte, und hielt ebenfalls den Mund.
Sein Fahrstil war forsch, aber nicht riskant. Ganz offensichtlich, dass der Mann und sein Wagen gute Freunde waren. Der Abendwind brachte Sofies Frisur endgültig zur Auflösung, aber das war ihr völlig egal. Von ihr aus hätte diese Fahrt noch viel länger dauern können. Viel zu schnell waren sie in der Tegernseer Landstraße angelangt. Schon kamen die rötlichen Mauern des Ostfriedhofs in Sicht.
Wie immer bei diesem Anblick wurde Sofies Kehle eng. Bislang hatte sie den Besuch am Grab der Eltern vor sich hergeschoben. Dabei war das neben der Sorge um Tante Vroni einer der Gründe gewesen, die sie zurück nach Giesing geholt hatten.
Sie bogen in die St.-Bonifatius-Straße ein.
Spedition Gfeiter las Sofie auf dem großen Schild, das an der gelben Hauswand angebracht war. Ihr Umzugsfuchs in München-Giesing . Siedend heiß fiel es ihr wieder ein: Die Typen hatten versprochen, demnächst die letzten Kartons bei ihr abzuholen. Nur – dazu mussten sie erst einmal leer sein …
Eine schmale Gestalt stand neben der Einfahrt. Wenn Sofie nicht alles täuschte, war es dieses auffallend blasse Mädchen im dunklen Hoodie, das sie schon am Morgen in der Bäckerei gesehen hatte.
Ob die auch umziehen wollte? Als der Jaguar näher kam, drehte sie sich auf dem Absatz um und spurtete in die Dämmerung davon.
»Die nächste rechts«, sagte Sofie mit einem Anflug von Bedauern.
Sollte sie sich wirklich bis vor die Tür bringen lassen? Und wenn Vroni mitbekam, dass ihre Ziehtochter sich gleich an ihrem ersten Arbeitstag in einem Jaguar-Cabrio von einem nicht gerade unangenehm aussehenden Mann im besten Alter nach Hause hatte chauffieren lassen? Warum eigentlich nicht? Spätestens mit neununddreißig hatte man ein Recht auf ein eigenes Leben.
»In der vierzehn wohne ich«, setzte sie hinzu.
»Schönes Haus«, sagte Charly Loessl anerkennend. »Wenn da zufällig mal was frei werden sollte …«
Sofie sah ihn an.
»Danke fürs Bringen«, sagte sie. »Hat Spaß gemacht.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Seine Augen hielten sie fest. »Und vergessen Sie unsere kleine Vereinbarung nicht …«
»Ich vergess nie etwas«, erwiderte Sofie, während sie sich mühsam aus dem niedrigen Sitz auf die Straße schälte. Anmut war etwas anderes. Aber egal. »Dafür bin ich berühmt-be rüchtigt.«
14
Alles auf Anfang
H errgott Zare, Tante Mare! Hoffentlich sah sie keiner!
Sofie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: Das war mal wieder typisch. Der Rest der Menschheit entledigte sich seines Müllbeutels mit einer lässigen Handbewegung, und gut war’s. Bei Sofie hingegen konnte so was gleich mal in eine mittelschwere Katastrophe ausarten.
Wie jetzt zum Beispiel.
Von ihrem Schlüsselbund keine Spur. Und wenn sie nicht bald fündig wurde, kam sie auch noch zu spät zu Tante Vronis Abendessen.
Hektisch wühlte Sofie sich durch Plastiktüten mit Windeln und leeren Konservendosen, Essensresten und Gemüseabfällen, alten Klamotten, kaputtem Spielzeug. Ein Wahnsinn, was die Leute so alles wegwarfen! Allerdings – auf die Weise konnte man die liebe Nachbarschaft auch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen …
Grinsend hob Sofie einen zerfledderten Groschenroman hoch, den sie neben Apfelschalen und Pizzakartons gefun den hatte. Dann aber stutzte sie und pfiff leise durch die Zähne, als sie den Stempel auf dem Umschlag entzifferte: Veronika Ilmberger .
Sieh einer an! Ausgerechnet. Wer hätte gedacht, dass
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