Die Kalte Zeit
hier keiner hören, aber wir haben ein kleines Problem. Im März muss ich die Spargelwurzelstöcke pflanzen. Es gibt aber kaum noch gute Jungpflanzen. Ich bin drei Monate zu spät dran. Das heißt, ich brauche sofort zehntausend Euro, um überhaupt noch genügend zu kriegen. Und das geht nicht ohne einen Kredit.«
Gesa blickte auf ihren Teller. Das war es also. Endlich erfuhr sie, was Wolf vorhatte. Vor Wut krampfte sich ihr Magen zusammen. ‚Es will ja hier keiner hören . . .’ und ‚Wir haben ein kleines Problem . . .’
Wolf hatte sich nie die Mühe gemacht, sie über seine Pläne zu informieren. Und nun tat er so, als wüsste sie schon ewig davon! Nur weil er dringend das Geld brauchte.
Konrad reagierte nicht auf Wolfs Bemerkungen. Er wirkte merkwürdig abwesend. Er sah sich nach Anna um, die am Herd stand.
»Warme Milch?«, fragte Anna, in einem für sie ungewöhnlich liebevollen Ton.
»Ja. Wenn’s denn recht ist.«
»Ich setze welche auf.« Gesa sprang auf, befüllte den Topf und stellte die Gasflamme an.
»Was meinst du dazu?«, fragte Wolf seinen Schwiegervater.
»Es gibt ein altes Sprichwort: ‚Spargel und Menschen haben ein gemeinsames Schicksal: Sobald einer den Kopf hochreckt, wird er abgestochen’.« Konrad hob seine Tasse, bemerkte, dass sie noch leer war und setzte sie mit einem Knall wieder ab. »Zum letzten Mal: Die Verhoevens bauen keinen Spargel an.«
Wolf ballte die Hand zur Faust und brüllte: »Aber die Hendricks!«
Niemand sagte mehr was. Gesa schien es, als versteinerten sie alle. Felix kam mit verstrubbelten Haaren im Schlafanzug herein, blickte in die angespannten Gesichter der Erwachsenen und kletterte auf den Schoß seiner Großmutter.
Wolf nahm keine Notiz von seinem Sohn, sondern wandte sich wieder an Konrad. »Ich war letzten Sommer in Georgien, nicht du«, sagte er. »Es herrscht nur noch Schieberei, Lug und Betrug. Jeder, mit dem du es da unten zu tun bekommst, ist korrupt. Angeblich war es ein schlechtes Erntejahr. Es war Frost, es gab Überschwemmungen und Erdbeben. Aber die Dänen haben eine Unmenge Samen mitgenommen.« Wolf trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Du kennst die Prognosen: In zehn Jahren müssen wir mit einer Schwemme von Nordmanntannen rechnen. Wie willst du als Familienunternehmen dann überleben? Ich renne doch nicht sehenden Auges in meinen wirtschaftlichen Untergang!«
Anna massierte Felix’ nackte Füße. »Du bist ganz kalt, mein Schatz. Wo hast du deine Hausschuhe? Sind die oben?« Felix kuschelte sich stumm an ihre Brust.
Konrad strich Annas selbst gemachtes Pflaumenmus auf sein Brötchen und schwieg.
»Mama? Glaubst du, der Weihnachtsmann schenkt mir ein Lego-Raumschiff?«, fragte Felix.
Gesa strich ihm über den Kopf. »Das hast du aber nicht auf deinen Wunschzettel geschrieben.«
»Aber Mama, du . . .« Felix verstummte, als Konrads Faust auf der Tischplatte aufschlug.
»Ich weiß nicht, was hier los ist. Diese Familie produziert seit über dreißig Jahren Weihnachtsbäume. Und so wird es bleiben.« Er blickte Gesa an. »Lass meine alten Tannen zufrieden. Ich will nicht, dass du die Baumschule ausbaust. Und was ich vor allem nicht will«, er kniff die Augen zusammen, ». . . ist, Spargelbauer werden.«
Wolf öffnete den Mund zu einer Entgegnung, doch er schloss ihn wieder, als ihn Konrads Blick traf.
Konrad stand auf und ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Herbert Graupner wird für den Schaden bezahlen, für die abgeschnittenen Tannenspitzen und für unseren Umsatzausfall. Sobald sie ihn schnappen.« Er blickte kurz zu Gesa. »Und das wäre längst passiert, wenn nicht deine Oberpfeife Lars Schäffer den Fall übernommen hätte. So, und jetzt beeilt euch. Die heilige Messe wartet nicht auf uns.«
***
5. Dezember
Seit einer halben Stunde standen Tom Zagrosek und Wiebke Blessing im Sektionssaal und mussten erneut den Anblick des verbrannten Leichnams ertragen. Der Geruch nach Grillfleisch hatte glücklicherweise nachgelassen. Der Vergleich des Gebisses mit den Unterlagen von Konrad Verhoevens Zahnarzt reichte Lennart Hage aus, um die Identität des Toten zu bestätigen. Er verzichtete auf eine DNA-Analyse.
»Todesursache war nicht der Schädelbruch«, sagte er und zeigte ihnen die Fraktur im oberen Bereich der Hirnschale. »Aber Verhoeven war vermutlich bewusstlos und ist dann erstickt. Im Blut erhöhtes Kohlenmonoxidhämoglobin von fünfzig bis sechzig Prozent, das ist bei einem über
Weitere Kostenlose Bücher