Die Kalte Zeit
Hoffnung nicht gegeben.« Er atmete aus. »Und trotzdem hat er nicht die Nähe der Menschen gesucht, die er liebt. Und die ihn lieben. Vielleicht wollte er sich und Ihnen die Illusion der Normalität erhalten? Die Diagnose verdrängen? Oder wollte er Sie schonen? Sie mit der schrecklichen Nachricht nicht belasten?«
Gesa ballte die Hände. Das alles wäre so nachvollziehbar gewesen. Aber der Grund war ein anderer. Konrad hatte Angst gehabt, die Kontrolle zu verlieren, wenn er zugab, dass er schwach und verletzlich war. Todkrank, dem Ende nahe.
Er hatte gedacht, sie tanzten ihm auf der Nase rum, machten auf dem Hof, was sie für richtig hielten. Konrad hatte ihnen nicht vertraut.
Anna kniete vor dem Herd und warf mit spitzen Fingern Scherben in den Müll.
Gesa verstand auf einmal, warum auch sie es nicht fertig brachte, anderen zu vertrauen. Sie waren ein Haufen Gefühlskrüppel. Ob sie ihre Unfähigkeit an Felix weitergab? Und er an seine Kinder? Felix! Sie erschrak so sehr, dass es ihr den Atem nahm: Sie hatte ihn ganz vergessen. Und sie hatte sich doch vorgenommen, ihn nicht aus den Augen zu lassen.
»Wo ist Felix eigentlich?« Gesa rieb ihre eiskalten Finger aneinander. »Mama!«
»Gerade eben war er noch unten im Hof. Er hat Hasko gefüttert.« Anna runzelte die Stirn. »Dreh nicht durch, Gesa. In letzter Zeit übertreibst du, was das Kind angeht.« Sie blickte die Kommissare an. »Der Junge darf nicht mehr allein auf die Straße. Ich weiß nicht, was das soll.«
Zagrosek räusperte sich. »Wir haben uns den Kopf zerbrochen, warum Konrad Verhoeven dem Verkauf von Grundstücken an die Kommune zugestimmt hat, obwohl er ursprünglich dagegen war. Er war am dritten Dezember bei Dr. Bohnen, am vierten fand das Gespräch mit Bürgermeister Hünges statt. Und in der darauf folgenden Nacht ist er gestorben.«
Gesa spürte seinen bohrenden Blick und wich ihm aus.
»Sehen Sie da einen Zusammenhang? Wir tun es.«
»Wir vermuten folgendes«, sagte Kleinschmidt. »Durch die Diagnose hat er erkannt, dass er das Unternehmen nicht mehr lange leiten kann. Er hat begonnen, die Dinge zu regeln. Ohne jemanden einzubeziehen. Er wusste, Sie und Ihr Mann Wolf hatten unterschiedliche Pläne. Kann darin der Grund liegen? Wollte er Streit und Diskussionen vermeiden? Würde dieses Verhalten zu ihm passen?«
Gesa nickte stumm. Konrad hatte immer alles allein entschieden.
Kleinschmidt stand auf. »Er hat für Sie beide bestimmt, wie es weitergehen wird. Zu Gunsten Ihres Mannes.«
»Mein Vater hat mir nicht zugetraut, das Unternehmen zu leiten«, sagte Gesa. »Er hat auf Wolf gesetzt, obwohl Konrad die Vorstellung einer Neubausiedlung vor seiner Haustür entsetzlich fand. Obwohl er seine geliebten alten Nordmanntannen dafür opfern musste. Und obwohl er nie ein Spargelbauer sein wollte.«
Sie warf Anna einen Blick zu, doch die stand am Fenster und sah hinaus. »Mein Vater hatte Recht. Er kannte mich durch und durch. Er wusste, ich bin nicht geeignet.
Ich hab ihn wohl immer nur enttäuscht.«
Sie trat zu Anna ans Fenster. Ein Wort, dass es nicht so war, ein liebevoller Blick, eine Geste . . . Nein, Anna schwieg mit versteinertem Gesicht.
Gesa sah hinunter. Im Hof war es still. Auf den Feldern wurde es dunkel, dort waren Fremde unterwegs, die ihre Gesichter hinter Schals versteckten. Felix war in Gefahr. Sie musste sofort wissen, wo er war, musste sehen, dass es ihm gut ging.
»Bitte entschuldigen Sie. Ich muss nach meinem Sohn sehen!« Gesa verließ die Küche, lief die Treppe herunter über den Flur, trat durch die Hoftür hinaus. Hasko döste im Zwinger auf seiner Decke.
Wolf entschied sich, seinen Wagen in der Scheune stehen zu lassen. Er wollte jetzt nicht Anna oder Gesa begegnen. Stattdessen lief er bis zur Nordmannkultur. Er hatte noch keinen Plan, wie er mit Guram umgehen wollte. Seit der Begegnung auf dem Heuboden fühlte er sich leer und ausgepowert. Und sein Hirn arbeitete nur schleppend. Ihm fehlte dringend ein Schluck.
Wolf sah den fremden Wagen schon von weitem vor dem Zaun stehen. Ein nagelneu aussehender Mercedes Sprinter. Der Georgier hatte für die nötige Ladefläche gesorgt. Er und einer seiner Schläger standen an die Front gelehnt. Nur einer? Oder hielt der andere sich versteckt? Als die Männer Wolf entdeckten, lösten sie sich vom Wagen, spannten ihre muskulösen Körper an, blickten ihm mit zusammen gekniffenen Augen entgegen. Wolf wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Er würde keinen
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