Die Kammer
warten. Ich war sechzig, als ich zum erstenmal drin war, und hinterher konnte ich eine Woche lang nicht schlafen.« Er trank einen Schluck Kaffee.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Ihnen erst zumute sein wird, wenn Sie dort hingehen. Der Todestrakt ist schon schlimm genug, wenn man jemanden vertritt, der einem völlig fremd ist.«
»Er ist mir völlig fremd.«
»Wie wollen Sie ihm beibringen... «
»Ich weiß es nicht. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Ich bin sicher, es wird sich irgendwie ergeben.«
Goodman schüttelte den Kopf. »Das ist irgendwie bizarr.«
»Die ganze Familie ist bizarr.«
»Ich erinnere mich jetzt wieder, daß Sam zwei Kinder hatte, eines davon eine Tochter. Es ist lange her. Und außerdem hat Tyner die Hauptarbeit getan.«
»Seine Tochter ist meine Tante, Lee Cayhall Booth, aber sie versucht, ihren Mädchennamen zu vergessen. Sie hat in den alten Geldadel von Memphis eingeheiratet. Ihr Mann besitzt ein oder zwei Banken, und sie verraten niemandem etwas über ihren Vater.«
»Wo lebt Ihre Mutter?«
»In Portland. Vor ein paar Jahren hat sie wieder geheiratet, und wir sprechen ungefähr zweimal im Jahr miteinander. Gestörte Beziehungen wäre ein milder Ausdruck.«
»Wie konnten Sie sich das College leisten?«
»Lebensversicherung. Mein Vater hatte Mühe, einen Job zu behalten, aber er war klug genug, eine Lebensversicherung abzuschließen. Als er Selbstmord beging, war die Wartezeit schon seit mehreren Jahren abgelaufen.«
»Sam hat nie über seine Familie gesprochen.«
»Und seine Familie spricht nie über ihn. Seine Frau, meine Großmutter, starb ein paar Jahre, bevor er verurteilt wurde. Das habe ich natürlich nicht gewußt. Der größte Teil meiner genealogischen Recherchen basiert auf dem, was ich von meiner Mutter erfahren habe, und der ist es weitgehend gelungen, die Vergangenheit zu vergessen. Ich weiß nicht, wie das in normalen Familien vor sich geht, Mr. Goodman, aber meine Leute kommen nur selten zusammen, und wenn sich zwei oder mehr von uns treffen, dann ist die Vergangenhe it das letzte, worüber gesprochen wird. Da gibt es viele dunkle Geheimnisse.«
Goodman knabberte an einem Kartoffelchip und hörte aufmerksam zu. »Sie erwähnten eine Schwester.«
»Ja, ich habe eine Schwester, Carmen. Sie ist dreiundzwanzig, ein intelligentes und hübsches Mädchen. Studiert in Berkeley. Sie ist in Los Angeles geboren und brauchte deshalb im Gegensatz zu uns anderen keine Namensänderung. Wir halten ständig Kontakt miteinander.«
»Sie weiß Bescheid?«
»Ja, sie weiß Bescheid. Ich habe es erst von meiner Tante Lee erfahren, kurz nach der Beerdigung meines Vaters, und dann hat mich meine Mutter, was für sie typisch ist, gebeten, es auch Carmen zu sagen, die damals erst vierzehn war. Sie hat nie irgendwelches Interesse an Sam Cayhall an den Tag gelegt. Offen gestanden, der Rest der Familie wünscht sich, er würde einfach in aller Stille verschwinden.«
»Dieser Wunsch wird ihnen erfüllt werden.«
»Aber es wird nicht in aller Stille passieren, nicht wahr?«
»Nein. Das tut es nie. Einen kurzen, aber ziemlich widerwärtigen Augenblick lang wird Sam Cayhall der Mann sein, über den im ganzen Land am meisten geredet wird. Wir werden dieselben alten Aufnahmen von der Bombenexplosion und den Prozessen mit den vor dem Gerichtsgebäude aufmarschierten Kluxern sehen. Die alte Debatte über die Todesstrafe wird wieder aufflammen. Die Presse wird in Parchman einfallen. Dann werden sie ihn töten, und zwei Tage später ist alles wieder vergessen. So ist es jedesmal.« Adam rührte in seiner Suppe und holte bedächtig ein Stück Hühnerfleisch heraus. Er betrachtete es einen Moment, dann beförderte er es wieder in die Brühe. Er hatte keinen Hunger.
Goodman verzehrte einen weiteren Chip und betupfte sich die Mundwinkel mit seiner Serviette.
»Sie glauben doch nicht etwa, Mr. Hall, daß Sie das geheimhalten können.«
»Dazu habe ich mir einige Gedanken gemacht.«
»Vergessen Sie's.«
»Meine Mutter hat mich angefleht, es nicht zu tun. Meine Schwester wollte nicht darüber reden. Und meine Tante in Memphis ist starr vor Angst vor der vagen Möglichkeit, daß wir alle als Cayhalls identifiziert werden und dann für immer ruiniert sind.«
»Die Möglichkeit ist gar nicht so vage. Wenn die Presse mit Ihnen fertig ist, wird sie alte Schwarzweißfotos von Ihnen ausgegraben haben, wie Sie auf den Knien Ihres Großvaters sitzen. Das macht sich großartig in den Zeitungen.
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