Die Kammer
Slattery will bei der Klage wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit nachhaken. Ich habe vor einer halben Stunde mit ihm gesprochen, und er weiß nicht, wo hinten und vorn ist. Ich habe ihm nicht geholfen. Er hat für fünf Uhr heute nachmittag eine Verhandlung angesetzt. Ich habe bereits mit Dr. Swinn telefoniert, und er steht in den Startlöchern. Er trifft um halb vier in Jackson ein und ist zur Aussage bereit.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte Adam mit dem Rücken zu Sam und Carmen.
»Wir treffen uns im Büro des Gouverneurs.«
Adam legte auf. »Ich muß die Berufungen einreichen«, erklärte er Sam, den dies im Moment nicht im mindesten interessierte. »Dazu muß ich nach Jackson.«
»Weshalb die Eile?« fragte Sam wie ein Mann, der noch Jahre zu leben und nichts zu tun hat.
»Eile? Hast du Eile gesagt? Es ist zehn Uhr, Sam, am Montag. Uns bleiben noch genau achtunddreißig Stunden, um ein Wunder zu bewirken.«
»Es wird keine Wunder geben, Adam.« Er wandte sich Carmen zu, die er noch immer bei der Hand hielt. »Mach dir keine falschen Hoffnungen, Carmen.«
»Vielleicht... «
»Nein. Meine Zeit ist gekommen. Und ich bin bereit. Ich möchte nicht, daß du traurig bist, wenn es vorbei ist.«
»Wir müssen los, Sam«, sagte Adam und berührte seine Schulter. »Ich komme entweder heute am späten Abend oder morgen ganz früh zurück.«
Carmen beugte sich vor und küßte Sam auf die Wange. »Mein Herz ist bei dir, Sam«, flüsterte sie.
Er umarmte sie eine Sekunde lang, dann stand er auf und trat an den Schreibtisch. »Paß auf dich auf, Mädchen. Lerne soviel wie möglich und all das. Und denk nicht zu schlecht von mir, okay? Es hat seinen Grund, daß ich hier bin. Es ist nur meine eigene Schuld. Und irgendwo da draußen wartet ein besseres Leben auf mich.«
Carmen stand auf und umarmte ihn noch einmal. Sie weinte, als sie den Raum verließen.
46
U m zwölf hatte Richter Slattery den Ernst der Stunde voll erfaßt, und obwohl er sich nach Kräften bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen, genoß er es außerordentlich, wenigstens für kurze Zeit im Zentrum des Sturms zu stehen. Zuerst hatte er die Geschworenen und die Anwälte des anstehenden Zivilprozesses entlassen. Er hatte zweimal mit dem Kanzleivorsteher des Fünften Berufungsgerichts in New Orleans telefoniert und dann mit Richter McNeeley selbst. Der große Moment war wenige Minuten nach elf gekommen, als Richter Edward F. Allbright vom Obersten Bundesgericht in Washington angerufen und sich nach dem neuesten Stand der Dinge erkundigt hatte. Allbrights Aufgabe bestand darin, den Fall ununterbrochen im Auge zu behalten. Sie hatten über Rechtsprechung und Theorie gesprochen. Keiner der beiden war ein Gegner der Todesstrafe, und beide hatten gravierende Probleme mit dem einschlägigen Gesetz im Staat Mississippi. Sie fürchteten, daß es von jedem Insassen des Todestrakts mißbraucht werden könnte, der vorgab, geistesgestört zu sein, und einen dubiosen Arzt fand, der ihm das bescheinigte.
Die Reporter bekamen schnell heraus, daß eine mündliche Anhörung angesetzt worden war, und sie überschwemmten nicht nur Slatterys Büro mit Anrufen, sondern nisteten sich auch in seinem Vorzimmer ein. Der U. S. Marshal wurde herbeigerufen, um sie wieder zu vertreiben.
Der Sekretär brachte jede Minute eine neue Botschaft. Breck Jefferson wühlte sich durch zahllose Gesetzestexte und bedeckte den langen Konferenztisch mit Recherchenmaterial. Slattery telefonierte mit dem Gouverneur, dem Justizminister, Garner Goodman und Dutzenden von anderen Leuten. Seine Schuhe standen unter seinem massigen Schreibtisch. Er wanderte um ihn herum, hielt den Hörer an einer langen Schnur ans Ohr und genoß den Wahnsinn in vollen Zügen.
Wenn es in Slatterys Büro schon hektisch zuging, dann herrschte in dem des Justizministers das totale Chaos. Roxburgh war in die Luft gegangen, als er erfuhr, daß einer von Cayhalls Schüssen ins Blaue ein Ziel getroffen hatte. Da kämpfte man nun zehn Jahre mit diesen Typen, die Berufungsleiter hinauf und hinunter, aus einem Gerichtssaal heraus und hinein in den nächsten, schlug sich mit den kreativen Juristenhirnen der Amerikanischen Bürgerrechtsvereinigung und ähnlicher Organisationen herum, produzierte dabei genügend Papierkram, um einen ganzen Regenwald zu vernichten, und gerade, wenn man glaubte, man hätte den Gegner im Visier, reicht er in letzter Minute noch eine Tonne von Anträgen ein, und einer davon erregt
Weitere Kostenlose Bücher