Die Kandidaten
schließlich.
»Ich glaube, du meinst, wie sie sich ineinander verlieben
können. Wenn ich die Antwort auf diese Frage wüsste, kleine
Blume, wäre ich Professor der Philosophie und müsste mir keine
Sorgen über mein Abschneiden in den Abschlussprüfungen
machen.«
»In meinem Land«, fuhr Su Ling fort, »spricht man erst über
die Liebe, wenn man einander viele Jahre kennt.«
»Dann verspreche ich dir, viele Jahre lang nicht über dieses
Thema zu sprechen – unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Dass du mit uns am Freitag nach Boston kommst.«
»Also gut, wenn du mir die Telefonnummer von Toms Tante
gibst.«
»Gern, aber wozu?«
»Meine Mutter wird mit ihr sprechen wollen.« Su Ling hob
den rechten Fuß und stellte ihn unter dem Tisch auf Nats linken
Fuß.
»Ich bin sicher, diese Geste hat in deinem Land eine besondere
Bedeutung.«
»Stimmt. Es bedeutet, dass ich mit dir spazieren gehen
möchte, aber nicht in einer Menschenmenge.«
Nat stellte seinen rechten Fuß auf ihren linken. »Und was
bedeutet das?«
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»Dass du meiner Bitte entsprechen willst.« Sie zögerte. »Aber
ich hätte das nicht als Erste tun sollen, denn nun gelte ich als ein
lockeres Frauenzimmer.« Nat nahm seinen Fuß herunter und
stellte ihn gleich darauf wieder auf ihren Fuß. »Mein Ehre
wurde wiederhergestellt«, lachte Su Ling.
»Wenn wir unseren abgeschiedenen Spaziergang hinter uns
haben, was passiert dann als Nächstes?«
»Du musst warten, bis meine Familie dich zum Tee einlädt.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Normalerweise gilt ein Jahr als angemessen.«
»Könnten wir das nicht ein wenig beschleunigen?«, schlug Nat
vor.
»Wie wäre es mit nächster Woche?«
»Na gut, dann wirst du nächsten Sonntagnachmittag zum Tee
zu uns kommen. Sonntag ist traditionell der Tag, an dem ein
Mann das erste Mal unter den wachsamen Augen der Familie
mit einer Frau speist.«
»Aber wir haben bereits mehrmals miteinander gespeist.«
»Ich weiß, darum musst du zum Tee kommen, bevor meine
Mutter das herausfindet, sonst werde ich verstoßen und enterbt.«
»Dann werde ich deine Einladung zum Tee nicht annehmen«,
erklärte Nat.
»Warum nicht?«
»Ich werde vor eurem Haus Stellung beziehen und dich
auffangen, wenn deine Mutter dich hinauswirft. Dann muss ich
keine zwei Jahre mehr warten.« Nat stellte beide Füße auf die
ihren. Sie entzog ihm ihre Füße sofort. »Was habe ich falsch
gemacht?«
»Zwei Füße bedeuten etwas völlig anderes.«
»Und was?«, wollte Nat wissen.
»Das kann ich dir nicht sagen, aber da du schlau genug warst,
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die korrekte Übersetzung von Su Ling herauszufinden, wirst du
ganz sicher auch die Bedeutung der zwei Füße enträtseln und es
niemals tun – außer …«
*
Am Freitagnachmittag fuhr Tom Nat und Su Ling zum Haus
seiner Tante in den grünen Vororten von Boston. Miss Russell
hatte offensichtlich mit Su Lings Mutter telefoniert, denn sie
brachte Su Ling in einem Gästezimmer im Hauptflügel unter,
direkt neben ihrem Schlafzimmer, während Nat und Tom in den
Ostflügel verbannt wurden.
Am nächsten Morgen nahm Su Ling nach dem Frühstück ein
Treffen mit dem Statistikprofessor von Harvard wahr, während
Nat und Tom langsam den Querfeldeinkurs abschritten. Das tat
Nat immer, wenn er über unvertrautes Gelände laufen musste.
Er inspizierte alle ausgetretenen Pfade und wann immer er an
einen Fluss, ein Gatter oder eine plötzliche Erhebung kam, übte
er mehrmals, das Hindernis zu überqueren.
Der Rückweg führte sie über eine Wiese. Tom fragte Nat, was
er tun würde, wenn Su Ling nach Harvard wechselte.
»Ich würde ebenfalls wechseln und mich an der Business
School einschreiben.«
»So stark sind deine Gefühle für sie?«
»Ja. Und ich kann nicht riskieren, dass ein anderer beide Füße
auf ihre Füße stellt.«
»Wovon redest du da?«
»Das erkläre ich dir ein anderes Mal.« Sie blieben vor einem
Bach stehen. »Wo wird der Gegner den Bach wohl
überqueren?«
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»Keine Ahnung«, sagte Tom. »Aber er ist zu breit, um einfach
darüber zu springen.«
»Das stimmt. Ich nehme an, sie haben dafür die großen,
flachen Kiesel in der Mitte vorgesehen.«
»Was machst du, wenn du dir nicht sicher bist?«, wollte Tom
wissen.
»Ich halte mich dicht hinter einem Läufer aus deren Team,
denn der macht automatisch das Richtige.«
»Was willst du so früh in der Saison denn erreichen?«
»Ich wäre schon zufrieden, wenn
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