Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
mir bewusst, dass ich nicht wusste, wer das gerade dachte: Isis oder ich. Panik überkam mich. Wenn ich meine und Isis’ Gedanken nicht mehr auseinanderhalten konnte, wie lange würde es wohl dauern, bis ich total durchdrehte?
»Nein, Thot«, krächzte ich. »Du musst mir glauben. Ich habe alles im Griff – ich, Sadie – und ich brauche deine Hilfe. Seth hat unseren Vater in der Gewalt.«
Plötzlich ließ ich alles raus – vom British Museum bis zu Carters Vision von der roten Pyramide. Thot hörte wortlos zu, aber ich hätte schwören können, dass sich neue Flecken auf seinem Kittel bildeten, während ich redete – es sah aus, als würden einige meiner Worte der Mischung hinzugefügt.
»Schau dir einfach mal etwas an«, sagte ich zum Schluss. »Carter, gib ihm das Buch.«
Carter kramte in seiner Tasche herum und zog das Buch heraus, das wir in Paris gestohlen hatten. »Das hast du geschrieben, oder?«, fragte er. »Da drin steht, wie man Seth besiegen kann.«
Thot entfaltete den Papyrusbogen. »Oh Mann. Ich hasse es, alte Arbeiten zu lesen. Schon dieser Satz hier. So würde ich das heute nicht mehr schreiben.« Er tastete die Taschen seines Kittels ab. »Rotstift – gibt mir mal bitte jemand einen Stift?«
Isis regte sich gegen meinen Willen auf und meinte, wir müssten Thot unbedingt zur Vernunft bringen . Einen Feuerball, bettelte sie. Nur einen riesigen magischen Feuerball, bitte!
Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht in Versuchung war, aber ich blieb hart.
»Also, Thot«, sagte ich. »Ägyptischer DJ oder was auch immer. Seth steht kurz davor, zumindest Nordamerika zu zerstören, vielleicht auch die ganze Welt. Millionen von Menschen werden sterben. Du hast behauptet, dir wäre das Gleichgewicht der Kräfte wichtig. Hilfst du uns jetzt oder nicht?«
Für eine Weile hörte man nur das Geräusch der Ibisschnäbel, die auf die Tastaturen einhackten.
»Ihr steckt in Schwierigkeiten«, bestätigte Thot. »Dann sag mir doch eins: Warum, glaubst du, hat dein Vater euch in diese Situation gebracht? Warum hat er die Götter freigesetzt?«
Um ein Haar hätte ich geantwortet: um Mom zurückzuholen. Aber daran glaubte ich nicht mehr.
»Meine Mutter konnte in die Zukunft sehen«, vermutete ich. »Irgendwas Schlimmes stand bevor. Ich glaube, mein Vater und sie wollten es aufhalten. Die Götter freizulassen hielten sie für den einzigen Weg.«
»Obwohl es unglaublich gefährlich für Sterbliche ist, die Macht der Götter einzusetzen?«, bohrte Thot weiter. »Und gegen das Gesetz des Lebenshauses verstößt – ich war übrigens derjenige, der Iskander davon überzeugt hat, dieses Gesetz zu erlassen.«
Ich erinnerte mich an etwas, das mir der alte Vorlesepriester im Gang der Zeitalter erzählt hatte. Götter verfügen über große Macht, doch nur die Menschen sind schöpferisch und haben die Kraft, die Geschichte zu verändern. »Vermutlich hat Mom Iskander davon überzeugt, dass diese Regel nicht stimmt. Vielleicht konnte er es nicht öffentlich eingestehen, jedenfalls hat sie ihn dazu gebracht, seine Meinung zu ändern. Was auch immer auf uns zukommt – es ist so schlimm, dass Götter und Sterbliche einander brauchen werden.«
»Und was kommt auf uns zu?«, erkundigte sich Thot. »Der Aufstieg Seths?« Sein Tonfall klang geheimnistuerisch, wie bei einem Lehrer, der eine Fangfrage stellt.
»Vielleicht«, erwiderte ich vorsichtig, »aber ich weiß es nicht.«
Oben auf dem Bücherregal rülpste Cheops. Er fletschte seine Zähne zu einem dreckigen Grinsen.
»Du könntest Recht haben, Cheops«, meinte Thot nachdenklich. »Sie klingt nicht wie Isis. Isis würde niemals zugeben, dass sie etwas nicht weiß.«
Ich musste Isis in Gedanken eine Hand auf den Mund pressen.
Thot warf Carter das Buch wieder zu. »Mal sehen, ob ihr ernst meint, was ihr sagt. Falls ihr mir beweisen könnt, dass ihr eure Götter wirklich im Griff habt und nicht einfach die alten Muster wiederholt, werde ich euch das Zauberbuch erklären.«
»Wir sollen einen Test machen?«, fragte Carter. »Einverstanden.«
»He, Moment mal«, protestierte ich. Dank Hausunterricht war Carter natürlich nicht klar, dass »Test« normalerweise nie etwas Gutes zu bedeuten hat.
»Wunderbar«, erwiderte Thot. »Da gibt es einen Gegenstand der Macht im Grab eines Magiers, den ich haben möchte. Bringt ihn mir.«
»Welchen Magier meinst du?«, fragte ich.
Statt einer Antwort zog Thot ein Stück Kreide aus seinem Kittel und kritzelte etwas in
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