Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
Unebenheit auf der Straße verlor ich das Gleichgewicht. Doch es war der einzige Ort, an dem ich allein sein konnte. Ich musste den Kopf freibekommen.
Ich übte, mein Schwert aus der Duat herbeizurufen und wieder zurückzuschicken. Solange ich mich konzentrierte, klappte es nach einer Weile fast jedes Mal. Danach übte ich ein paar Bewegungen – Abwehr, Stöße und Schläge –, bis Horus sich nicht mehr verkneifen konnte, mir Ratschläge zu geben.
Halt die Klinge höher, wies er mich an. Versuch, einen Bogen zu beschreiben, Carter. Die Klinge ist so geformt, dass sie die Waffe eines Feindes abfängt.
Ach, sei still, brummte ich. Wo warst du denn, als ich Hilfe auf dem Basketballplatz gebraucht habe? Doch ich versuchte, das Schwert so zu halten, wie er mir geraten hatte, und er hatte Recht.
Der Highway schlängelte sich lange durch unbebautes karges Land. Von Zeit zu Zeit überholten wir einen Viehlaster oder einen Geländewagen und sobald mich die Fahrer erblickten, bekamen sie große Augen: ein schwarzer Junge, der hinten auf einem Wohnmobil ein Schwert schwang. Ich lächelte bloß und winkte und dank Cheops Fahrstil hängten wir sie ratzfatz ab.
Nachdem ich eine Stunde trainiert hatte, klebte kalter Schweiß mein Hemd an meinen Oberkörper. Ich atmete schwer. Ich beschloss, mich hinzusetzen und eine Pause einzulegen.
»Bald ist es so weit«, erklärte mir Horus. Seine Stimme klang greifbarer, nicht länger so, als wäre sie nur in meinem Kopf. Ich sah zur Seite und da schimmerte er in einer goldenen Aura. Er lümmelte in seiner Lederrüstung auf dem anderen Liegestuhl und stützte die sandalenbekleideten Füße auf das Geländer. Sein Schwert, eine schemenhafte Kopie meiner Waffe, lehnte neben ihm.
»Wofür?«, fragte ich. »Für den Kampf mit Seth?«
»Für den natürlich auch«, erwiderte Horus. »Doch zuvor steht noch eine andere Herausforderung an, Carter. Stell dich darauf ein.«
»Toll. Als hätte ich nicht schon genug Herausforderungen gehabt.«
Horus’ silbern-goldene Augen glitzerten. »Als ich klein war, hat Seth oft versucht, mich umzubringen. Bis ich alt genug war, um ihm entgegenzutreten, waren meine Mutter und ich ständig auf der Flucht und haben uns vor ihm versteckt. Der Rote Lord wird dieselben Mächte auf dich hetzen. Als Nächstes kommt –«
»Ein Fluss«, vermutete ich und erinnerte mich an meine letzte Seelenreise. »An einem Fluss wird sich etwas Schlimmes ereignen. Aber was wird die Herausforderung sein?«
»Du musst dich vorsehen –« Das Bild von Horus begann zu verblassen und der Gott runzelte die Stirn. »Was ist das? Jemand versucht – eine andere Macht –«
Das leuchtende Bild von Zia Rashid nahm seinen Platz ein.
»Zia!« Ich sprang auf. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich verschwitzt und dreckig war und aussah, als hätte mich jemand durchs Land der Toten geschleift.
»Carter?« Ihr Bild flackerte. Sie hielt ihren Zauberstab umklammert und über ihrem Gewand trug sie einen grauen Mantel. Sie schien irgendwo zu stehen, wo es kalt war. Ihr kurzes schwarzes Haar spielte um ihr Gesicht. »Dank Thot habe ich euch gefunden.«
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Keine Zeit! Hör zu: Wir sind hinter euch her. Desjardins, ich und zwei andere. Wir wissen nicht genau, wo ihr seid. Desjardins’ Ortungszaubersprüche schaffen es nicht, euch zu finden, aber trotzdem kommen wir euch immer näher. Und er weiß, wohin ihr wollt – nach Phoenix.«
Meine Gedanken überschlugen sich. »Glaubt er jetzt endlich, dass Seth in Freiheit ist? Kommst du, um uns zu helfen?«
Zia schüttelte den Kopf. »Er kommt, um euch aufzuhalten.«
»Um uns aufzuhalten? Zia, Seth wird den Kontinent in die Luft jagen! Mein Dad –« Meine Stimme versagte. Ich hasste es, wie verängstigt und machtlos ich klang. »Mein Dad ist in Schwierigkeiten.«
Zia streckte eine schimmernde Hand aus, aber sie war bloß ein Bild. Unsere Finger konnten sich nicht berühren. »Carter, es tut mir leid. Du musst Desjardins’ Standpunkt verstehen. Jahrhundertelang hat das Lebenshaus versucht, die Götter unter Verschluss zu halten, um zu verhindern, dass so etwas passiert. Jetzt, wo ihr sie freigesetzt habt –«
»Es war nicht meine Idee!«
»Das weiß ich, trotzdem versucht ihr, Seth mit göttlicher Magie zu bekämpfen. Götter lassen sich nicht kontrollieren. Vielleicht richtet ihr am Ende noch größeren Schaden an. Wenn ihr es dem Lebenshaus überlasst –«
»Seth ist zu stark«, erwiderte ich.
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