Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
kleines Kind hatte ich Träume gehabt, in denen ich geflogen war, und ich hatte es immer gehasst aufzuwachen. Jetzt war es kein Traum, nicht mal ein Ba-Ausflug. Es war hundert Prozent wirklich. Auf den kalten Luftströmungen segelte ich über die Dächer von Paris. Ich sah den Fluss, den Louvre, die Gärten und Paläste. Und eine Maus – lecker.
Ganz ruhig, Carter, dachte ich. Keine Zeit für die Mäusejagd. Ich nahm Desjardins’ Villa ins Visier, legte die Flügel an und ging in den Sturzflug.
Ich sah den Dachgarten, die doppelten Glastüren, die ins Haus führten, und die Stimme in mir sagte: Halt nicht an. Es ist bloß eine Illusion. Du musst ihre magischen Barrieren durchstoßen .
Was für ein verrückter Gedanke. Ich stürzte mit solcher Geschwindigkeit in die Tiefe, dass ich als Federpfannkuchen enden würde, wenn ich gegen die Scheibe klatschte! Trotzdem verlangsamte ich meinen Flug nicht.
Ich knallte geradewegs in die Türen – und flog hindurch, als gäbe es sie überhaupt nicht. Ich breitete die Flügel aus und landete auf einem Tisch. Sadie schwebte direkt hinter mir in den Raum.
Wir befanden uns allein mitten in einer Bibliothek. Das war schon mal gut.
Ich schloss die Augen und überlegte, ob ich wieder meine normale Gestalt annehmen sollte. Als ich die Augen öffnete, war ich der normale alte Carter und saß in meinen normalen Klamotten mit der Arbeitstasche auf dem Rücken am Tisch.
Sadie war immer noch ein Milan.
»Du kannst dich jetzt wieder zurückverwandeln«, erklärte ich ihr.
Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich fragend. Sie stieß ein frustriertes Krächzen aus.
Ich grinste. »Du kannst es nicht, was? Kommst nicht aus dem Vogelkörper raus?«
Sie hackte mir mit ihrem extrem scharfen Schnabel in die Hand.
»Autsch!«, sagte ich. »Ist doch nicht meine Schuld. Versuch es weiter.«
Sie schloss die Augen und plusterte die Federn auf, bis sie aussah, als würde sie jeden Moment platzen. Doch sie blieb ein Milan.
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich sie und versuchte, keine Miene zu verziehen. »Bastet wird dir helfen, sobald wir hier raus sind.«
»Ha – ha – ha.«
»Halt einfach Wache. Ich werd mich hier mal umschauen.«
Der Raum war riesig – und sah eher wie eine klassische Bibliothek als die Höhle eines Magiers aus. Die Einrichtung war aus dunklem Mahagoni. An jeder Wand zogen sich deckenhohe Bücherschränke entlang. Die Regale quollen vor Büchern über. Weitere waren auf Tische gestapelt oder in kleinere Regale gestopft. Ein großer Schaukelstuhl am Fenster sah nach einem Platz aus, an dem Sherlock Holmes pfeiferauchend sitzen könnte.
Bei jedem Schritt knarrten die Dielen, was mir durch Mark und Bein ging. Ich konnte zwar sonst niemanden im Haus hören, aber ich wollte nichts riskieren.
Außer den Glastüren zum Dachgarten war der einzige andere Ausgang eine massive Holztür, die sich von innen abschließen ließ. Ich drehte den Knauf. Anschließend klemmte ich einen Stuhl unter die Türklinke. Ich bezweifelte, dass Magier sich dadurch lange abhalten lassen würden, aber vielleicht gewann ich, wenn etwas schiefging, ein paar Sekunden.
Eine gefühlte Ewigkeit lang suchte ich die Bücherregale ab. Die unterschiedlichsten Bücher standen kreuz und quer durcheinander – nichts war nach Alphabet oder Nummern geordnet. Die meisten Titel waren nicht auf Englisch. Keine in Hieroglyphen. Ich hoffte auf etwas, auf dem in großen Goldbuchstaben Das Buch des Thot stand, aber das gab es natürlich nicht.
»Wie würde ein Buch des Thot überhaupt aussehen?«, überlegte ich.
Sadie wandte den Kopf und funkelte mich böse an. Sicher wollte sie mir sagen, ich solle mich beeilen.
Wären doch bloß Uschebti dagewesen, um Dinge herbeizuholen, so wie die in der Bibliothek von Amos! Doch ich sah keine. Aber vielleicht …
Ich nahm Dads Tasche von der Schulter. Ich stellte seinen Zauberkasten auf den Tisch und schob den Deckel zurück. Die kleine Wachsfigur lag immer noch darin, genau dort, wo ich sie hingelegt hatte. Ich nahm sie hoch und sagte: »Marshmallow, hilf mir, in dieser Bibliothek das Buch des Thot zu finden.«
Sofort öffneten sich seine Wachsaugen. »Warum sollte ich dir helfen?«
»Weil du keine andere Wahl hast.«
»Ich hasse dieses Argument! Schön – dann halt mich hoch. So kann ich die Regale nicht sehen.«
Ich lief mit ihm durch den Raum und zeigte ihm die Bücher. Ich kam mir ziemlich blöd vor, mit der Wachspuppe eine Hausführung zu
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