Die Kanonen von Navarone
seine Uhr. Noch nie hatte er einen Sekundenzeiger so langsam gehen sehen. Er rauchte eine letzte Zigarette an, schenkte sich noch ein Glas Wein ein und lauschte dabei, ohne mit dem Ohr etwas aufzunehmen, dem ergreifenden Gesang in der Ecke. Als das Lied der Haschischsänger klagend verklang, waren auch ihre Gläser leer, und Mallory stand auf.
»Alles zu seiner Zeit«, murmelte er. »Wir müssen wieder ans Werk.«
Gemächlich spazierte er zum Ausgang und rief dem Wirt gute Nacht zu. Aber dicht an der Tür blieb er stehen und begann ungeduldig in seinen Taschen zu kramen, als müsse er etwas verloren haben. Es war eine windstille Nacht mit Regen, einem schweren Regen, den er wie dünne Lanzen ins Pflaster stechen sah, von dem die Tropfen hoch absprangen. Die Straße war, so weit er nach beiden Seiten blicken konnte, menschenleer. Von dem Ausblick befriedigt, machte Mallory im selben Moment mit einem Fluch kehrt, furchte ärgerlich die Stirn und tat, als wolle er an den Tisch zurückgehen, den er schon verlassen hatte. Seine rechte Hand tauchte in eine geräumige Innentasche seiner Jacke. Er sah, anscheinend ohne davon Notiz zu nehmen, daß Dusty Miller seinen Stuhl zurückschob und aufstand. Und jetzt blieb er auch stehen, sein Gesicht glättete sich und seine Hand suchte nicht mehr. Er war genau einen Meter vor dem Tisch, an dem die vier Deutschen saßen.
»Ganz still sitzen!« sagte er deutsch, mit gedämpfter Stimme, die aber ebenso drohend klang wie die 11,5-mm-Marinepistole aussah, die er in der Rechten hielt. »Wir nehmen keine Rücksicht. Wer sich rührt, wird niedergeknallt.«
Volle drei Sekunden blieben die Soldaten bewegungsunfähig sitzen, mit ausdruckslosen Gesichtern. Nur ihre Augen hatten sich vor Schreck geweitet. Dann blinzelte der am nächsten an der Theke sitzende, machte eine Schulterbewegung – und schon stieß er einen gepreßten Schmerzensschrei aus, als eine 8-mm-Kugel in seinen Oberarm schlug, der weiche Knall von Millers Revolver war bis draußen bestimmt nicht zu hören.
»Verzeihung, Boß«, entschuldigte sich Miller. »Vielleicht leidet der Mann ja bloß an Veitstanz.« Er betrachtete interessiert das vor Schmerz entstellte Gesicht des Soldaten und das Blut, das zwischen seinen fest um die Wunde geklammerten Fingern hervorsickerte. »Jedenfalls scheint er mir jetzt kuriert.«
»Das ist er«, sagte Mallory grimmig. Er wandte sich an den Wirt, einen großen melancholischen Menschen mit hagerem Gesicht und einem Mandarinschnurrbart, der wie hilflos über die Mundwinkel hing, und fragte ihn in dem schnellen Griechisch, das vom einfachen Volk auf diesen Inseln gesprochen wurde: »Verstehen die Leute Griechisch?«
Der Gastwirt schüttelte den Kopf. Er war gänzlich unerschüttert und gleichgültig, als seien bewaffnete Überfälle in seiner Taverne an der Tagesordnung. »Die? Nein«, erwiderte er geringschätzig. »Ein bißchen Englisch, glaube ich, kann's aber nicht genau sagen. Unsere Sprache verstehen die nicht, soviel weiß ich.«
»Gut. Ich bin Offizier bei der britischen Abwehr. Haben Sie einen Platz, wo ich die Soldaten verstecken kann?«
»Sie hätten das nicht tun dürfen«, wagte der Wirt sehr vorsichtig zu protestieren, »das wird mir bestimmt das Leben kosten.«
»O nein, wird es nicht.« Mallory hatte sich über die Theke gleiten lassen, sein Pistolenlauf drückte dem Mann gegen das Zwerchfell. Jeder mußte überzeugt sein, daß der Wirt von ihm bedroht war, sehr bedroht sogar – das heißt: jeder, der nicht sah, wie deutlich Mallory dem Wirt zuzwinkerte, mußte das glauben. »Ich werde auch Sie mit in Fesseln legen. Klar?«
»Verstehe. Hier am Ende der Theke ist eine Falltür, die Treppe geht in den Keller.«
»Sehr schön. Ich werde sie wie durch Zufall entdecken.« Mallory gab ihm einen tüchtigen Schubs, der sehr echt einen Wutanfall markierte. Der Wirt taumelte zurück, während Mallory sich über die Theke schwang und schnell zu den Haschischsängern im Hintergrund des Raumes ging.
»Geht nach Hause«, sagte er schnell zu ihnen, »die Ausgangssperre fängt sowieso gleich an. Zur Hintertür 'raus, und – vergeßt ja nicht: ihr habt nichts gesehen! Keiner von euch, verstanden?«
»Wir verstehen.« Der junge Bouzoukospieler hatte geantwortet. Er wies mit dem Daumen auf seine Begleiter und sagte: »Schlechte Menschen, aber gute Griechen. Können wir Ihnen helfen?«
»Nein!« sagte Mallory energisch. »Denkt doch an eure Familien – diese Soldaten haben euch
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