Die Kanzlerin - Roman
der Leibwächter sofort geändert, neue Leute angefordert und eine vertiefte Sicherheitsüberprüfung aller Personenschützer angeordnet.
Haxer handelte wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat, dachte die Kanzlerin und gönnte ihm das von Herzen, auch wenn es für seine möglichen Selbstvorwürfe keinen objektiven Grund gab.
Die Liebe ist eine seltsame Macht, und wie gefährlich sie sein kann, hatte sich wieder einmal gezeigt. Vielleicht hatte sie das kurz vor Sonnenaufgang gedacht, jedenfalls fühlte sie sich auf einmal unglaublich einsam und verschickte einige SMS. An Bossdorf, der ihre letzte Pressekonferenz vor der Sommerpause vorbereiten sollte, an Kranich: »Mit Ihnen hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen, seien Sie also bitte pünktlich heute Morgen«; an Haxer: »Die Frage der weiss lackierten Fingernägel scheint mir eine vordringliche zu sein«; und auch an Caspers: »Gut, Sie in diesem Augenblick in meiner Nähe zu wissen.« Caspers simste sofort zurück: »Wenn Sie reden möchten, Frau Kanzlerin, dann komme ich auf einen Sprung zu Ihnen rauf.«
Aber sie wollte nicht reden, sie wollte sich nur nicht allein fühlen. Was die Leute sich so vorstellen. Kanzlerin zu sein, nach Moskau zu reisen, nach Peking … Wie idiotisch, dachte sie, ist doch eine Olympiade.
Das Zählen von Medaillen. Wofür? Dass zwei Deutsche auf einenTurm klettern und sich von dort in merkwürdig verrenkten Körperposen synchron ins Wasser fallen lassen und es Punktrichter gibt, die offenbar anhand der Wasserspritzer errechnen können, ob das nun eine Goldmedaille ist oder doch nur eine silbrige: Wie jemand ins Wasser plumpste, das war ihr vollkommen egal.
Ich will mir, dachte sie, noch einmal alles vergegenwärtigen, bevor es Winter wird. Denn dazwischen ist nur ein Katzensprung. Ein paar Urlaubstage, der Säntisausflug, zwei Katzensprünge, und sie war im Wahlkampf, Koalitionsgespräche, Regierungsbildung, Gruppenfoto mit der alten und neuen Kanzlerin, die ersten hundert Tage, die ersten Abrechnungen, und schon läuten wieder die Neujahrsglocken.
Ihr Vorgänger hatte Wahlkämpfe geliebt, sie nicht. Monatelang keinen intelligenten Satz mehr sagen zu dürfen und bloss nicht in Verdacht zu geraten, eine Intellektuelle zu sein – was sollte daran attraktiv sein? Sich mit den immer gleichen Reden an den immer gleichen Passagen beklatschen zu lassen – was für eine Befriedigung sollte ihr das bereiten? Was für ein Vergnügen sollte es ihr machen, in Mikrofone zu lügen, die auf nicht wenigen Marktplätzen auch noch schepperten und ihre Stimme verzerrten?
Dieses ganze Getue.
Die Kanzlerin fühlte sich schlapp und lustlos und wählte eine Kleidung, die bei Journalisten besonders unbeliebt war, einen Hosenanzug.
Sie musste mit Putin reden heute, obwohl sie ihm auch nur sagen konnte, was ihm schon der Aussenminister gesagt hatte. Dass Deutschland an der strategischen Partnerschaft festhalten werde, aber darauf bestehe, dass Russland den Kaukasuskonflikt sofort entschärfe. Weil Europa einen Brandherd vor der Haustür nicht tolerieren könne. Putin demonstrierte, dass er sein Land im Griff hatte und Russland wieder eine Grossmacht war. Und das konnte sie verstehen, sehr gut sogar.
Als er vor wenigen Jahren bei der Münchner Sicherheitskonferenz das selbstbewusste Russland in einer Rede neu positioniert und dabei die Fakten auf seiner Seite gewusst hatte, da hatten sich die Konferenzteilnehmer heuchlerisch überrascht und düpiert gezeigt. Von einem unangemessen arroganten Auftritt war die Rede gewesen.
Aber so war es nicht.
Unangemessen war die Ignoranz, mit der die USA, aber auch Europa auf den Niedergang der Sowjetunion reagiert hatten. Und die Lage völlig falsch einschätzten. Mit Ausnahme Deutschlands. Ihr Vorgänger war der Einzige, der das neue Russland und Putin nie unterschätzt hatte. In München öffnete er erstmals das Visier, und die Welt sah kein beleidigtes Gesicht, sondern ein stolzes. Und hörte Sätze voller Ironie und eine Beurteilung der Weltlage, die so sarkastisch war, dass die Amerikaner Putin Drohgebärden unterstellten. Wie dumm, dachte die Kanzlerin. Und wie klug von ihrem Vorgänger, Russland an Europa binden zu wollen. Wozu es keine Alternative gab. Darum hatte sie an diesem Kurs nicht ein Jota geändert. Weil Fakt war, dass die Macht in der Welt neu verteilt wurde. Und mittelfristig die Frage beantwortet werden musste: Mit wem soll Russland paktieren? Für sie war diese Frage wichtiger als der
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