Die Kanzlerin - Roman
paar Buchungen habe ich auch schon rückgängig gemacht.«
»Denk an die Seilbahnbetreiber, Anton, die können wegen der Deutschen ein paar tausend Leute weniger auf den Berg raufkutschieren.«
»Die werden sich schon einigen, Sämi. Die werden daraus ein Geschäft zu machen wissen.«
»Und noch etwas, Anton: Du weisst offiziell von nichts. So wie auch ich von nichts wissen darf. Du sprichst mit keinem, auch nicht mit deiner Frau. Die Prominenten wollen hier nicht prominent sein, sondern unbehelligt.«
»Ich werde sie nicht behelligen«, sagte Kalkstein, »und hoffe, dass ich ebenfalls nicht behelligt werde.«
»Tut mir leid, Anton, aber jetzt muss ich«, sagte Samuel Tanner. »In meiner Funktion als Gemeindepräsident muss ich jetzt noch einen Abstecher zu den Musikanten machen.«
»Wer macht die deutsche Marschmusik?«
»Ich habe an das Trio Apero gedacht. Die wissen, wie man das macht, wie man unverfälschte Appenzeller Musik macht, und es tönt doch nach grosser Welt.«
Als der Gemeindepräsident das Lokal verliess, fiel ihm ein Gast auf, der offenbar schon eine ganze Weile dagesessen hatte, aber vor einer leeren Tasse Kaffee. »Anton, es gibt auch ganz normale Gäste, die vielleicht noch einen Wunsch haben.«
» C lemens, warum bringst du mir eigentlich immer Blumen mit?«
Bossdorf wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er setzte sich schweigend an den gedeckten Tisch.
»Du setzt dich sonst aber auf einen anderen Stuhl. Du setzt dich doch immer auf den gleichen Stuhl. Auf deinen Stuhl. Warum setzt du dich heute auf einen anderen Stuhl?«
»Weil ich heute Lust habe, auf einem anderen Stuhl zu sitzen, Mutter.«
»Wie du willst, und eigentlich kann mir das ja auch egal sein. Und schliesslich habe ich ja nur diese Stühle. Und jeder Stuhl ist gleich. Und trotzdem ist es irgendwie, als ob du heute nicht richtig bei mir sitzen würdest, Clemens, als ob du vielleicht gar nicht kommen wolltest.«
»Ich wollte dich besuchen, Mutter, sonst wäre ich nicht gekommen.«
»Aber das nächste Mal bringst du mir bitte keine Blumen mit, und schon gar nicht – das sind … der Name ist mir jetzt entfallen, aber solche Blumen gehören auf den Friedhof. Da bin ich ja auch bald, und dann kannst du mir solche Blumen meinetwegen auf mein Grab legen. Das ist dann deine Sache, und ich werde mich nicht mehr einmischen. Dann hast du endlich deine Ruhe, wenn deine Mutter Ruhe gibt für immer.«
»Ich will nicht, dass du ruhig bist, Mutter, ich höre dir zu.«
»Ich habe einen Braten gemacht, Kartoffelpüree, das liebst du doch. Oder ist das wie mit den Stühlen, und du möchtest plötzlich etwas ganz anderes essen?«
»Ich habe Appetit, Mutter, auf deinen Braten und auf Kartoffelpüree.«
»Aber eine gute Pasta würde dir jetzt auch schmecken?«
Bossdorf fühlte sich wohl in ihrer Wohnung. Erstaunlicherweise fühlte er sich hier immer noch zu Hause. Und manchmal legte er sich für ein paar Stunden auf das grüne Sofa im Wohnzimmer und schlief ein.
Aber jetzt fragte seine Mutter: »Was macht Claudia? Wie geht es ihr?«
»Welche Claudia?«
»Oder hiess sie Nina? Du weisst doch, dass ich mir Namen nicht mehr so gut merken kann. Hilf mir doch, Clemens.«
»Ich kenne auch keine Nina.«
»Du hast sie zweimal mitgebracht.«
Nur eine Frau, die Bossdorf seiner Mutter vorgestellt hatte, war noch einmal gekommen. Ein zweites Mal. »Susanne«, sagte er.
»Nein, an eine Susi kann ich mich nicht erinnern«, sagte seine Mutter, und Bossdorf fragte: »Gibt es einen Nachtisch?«
»Zuerst stelle ich die Blumen in eine Vase, mein Sohn, davon gibt es ja viele, und verdursten lassen habe ich noch keine deiner Blumen. Und dann gibt’s Schokoladenpudding.«
E igentlich wollte Loderer das Foto von Frau Male in aller Ruhe anschauen, aber die Neugier war zu gross, und so öffnete er die Datei. Er zoomte das Bild auf 150 Prozent und sah eine schöne Frau. Sie lächelte. Sie sass auf einer Bank. Vor einem Ferienhaus? Auf einer Steinbank? Sie sass auf einem Kissen, das von ihrem Körpergewicht nur leicht nach unten gedrückt wurde. Eine leichte Frau, federleicht. Schneeweisse Haut, die roten Haare nach hinten geknüpft. Eine breite Stirn. Lachende Augen. Den Blick auf etwas gerichtet, was rechts vom Fotografen und nicht zu sehen war. Aber vielleicht war der Blick auch nach innen gerichtet. Das rechte Bein über das linke Bein geschlagen. Schlanke Beine, aber kräftig, Jeans. Die rechte Hand fasst sich an den rechten Oberschenkel, die
Weitere Kostenlose Bücher