Die Kanzlerin - Roman
gar nichts machte: faul warer nicht. Kaum eine Minute, in der er nichts dachte. Entweder man arbeitet oder man denkt. Und im Augenblick dachte er, dass diese Frau Male vermutlich eine sehr junge Frau war und es sich in ihrem Leben bequem eingerichtet hatte. LG, als Formel für Liebe Grüsse, das war begründbar, das war praktisch, das war im Prinzip nichts anderes als s.v.p. für s’il vous plaît – und trotzdem war es k.sch., kaltschnäuzig. Bei diesem Gedanken merkte Loderer, dass die Klimaanlage nicht zu hören und seine Stirn schweissnass war. Er war heiss auf diese Frau Male. Erstmals seit Monaten spürte er Leben in sich und eine Erregung, die er nicht einfach mechanisch befriedigen wollte.
»Liebe Frau Male, in erster Linie kontrolliere ich mich selbst. Was zum einen bedeutet, dass ich mich selbst immer wieder disziplinieren muss, um nicht vom richtigen Weg abzukommen, andererseits aber auch heisst, dass ich kein Schnüffler bin. Jeder hat das zu verantworten, was er tut, und eigentlich sollten sich die Leute nur dieses Controlling gefallen lassen. Aber weil die Leute faul sind, schieben sie Verantwortung ab, delegieren und liefern sich so letztlich Leuten aus, die ebenfalls faul sind und ihre Verantwortung abschieben.«
Loderer ging in die Kantine, holte sich ein Eis und schrieb weiter: »Übrigens finde ich den Namen ›Frau Male‹ äusserst interessant. Bist du eine schlechte Frau? Oder nur schlecht zu Männern? Oder bist du nur für gewisse Männer gut? Und bist du online jetzt? Liebe Grüsse, der Controller.«
Es war kurz nach 13 Uhr, und sie antwortete sofort: »Gewisse Männer finden mich ganz gut, lieber Controller. Ob auch du zu ihnen gehörst, das kann ich dir leider nicht sagen. Es sei denn, du sagst mir noch ein bisschen mehr über dich. Wie alt bist du, zum Beispiel?«
13.08: Loderer schrieb: »In meinem Profil steht vierundvierzig. Ich bin aber fünfundfünfzig. Bei dir steht achtundzwanzig. Wiealt bist du? Und könnte das jetzt schon das Ende unseres Dialogs sein, weil ich doppelt so alt bin wie du und du keinen Bock hast auf einen so alten Sack?«
13.10: »Du hast Glück. Ich bin dreissig, also nicht einmal doppelt so jung wie du. Aber alte Säcke mag ich tatsächlich nicht. Bist du einer?«
Loderer verwickelte sich plötzlich in Gedanken, die ihn hemmten. Was wollte er von dieser Frau? Vielleicht würde sie ihm das sagen können. Er könnte sie fragen: »Was willst du von mir?« Er schrieb etwas anderes: »Frau Male, ich möchte dir diesen Vorschlag machen: Wir bleiben beide absolut anonym. Damit wir uns absolut ehrlich schreiben können. Damit wir uns alles sagen können. Hast du dieses Bedürfnis auch? Gleiche Zeit morgen? Der Controller fragt.«
»Controller, was ich dir alles sagen werde, weiss ich noch nicht. Aber die Vorstellung, dass wir absolut ehrlich schreiben und anonym bleiben, die hat ihren Reiz. Bis morgen also. LG, Frau Male.«
Mittagspause. Loderer wollte nach Hause. Um 13 Uhr kam die Putzfrau. Paulina, eine Polin. Sie hatte einen Schlüssel, sie war vertrauenswürdig, und so gesehen gab es überhaupt keinen Grund, dass er anwesend war, wenn sie seine kleine Wohnung saubermachte. Zwei Zimmer, Flur, Küche, Terrasse, sechzig Quadratmeter. Loderer war nicht oft zu Hause, kochte nicht, aber seine Wäsche machte er selbst. Viel hatte Paulina also nicht zu tun. Aber deswegen hatte er sie auch nicht engagiert.
Er klingelte an seiner eigenen Wohnungstür, weil sie vielleicht schon da war und er sie nicht erschrecken wollte. Einmal, als er das vergessen hatte, die Tür öffnete und vom Flur direkt ins Wohnzimmer ging, lag Paulina auf dem Fussboden. Sie zuckte zusammen, beendete ein Telefongespräch und ging sofort ins Bad.
Sie war noch nicht da. Er legte sich aufs Sofa. Er war erregt und spielte an sich herum. Das gab Flecken, und zweimal in der Woche machte Paulina sie weg. Er wollte neue Flecken machen, schnell, weil sie fast immer pünktlich war. Dass sie im nächsten Augenblick schon da sein könnte, die Tür öffnen würde, dieser Gedanke steigerte seine Erregung so, dass er zitterte. Sein Gesicht war immer ernst, wenn er mit sich spielte. Zu existieren ist nicht lustig. Wer existiert, ist unter Druck. Und wer Druck abbauen muss, der lacht nicht. Es gibt keinen fröhlichen Sex, dachte er und spürte den Spannungsabfall. Der Gedanke hatte Erinnerungen ausgelöst, die seine Lust bremsten. Also dachte er: Es ist egal. Paulina kommt, und ich mache einfach weiter. Sie
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