Die Kanzlerin - Roman
fortzusetzen. »Für die liberale Partei gibt es nur einen einzigen Grund, sich Rot-Gelb-Grün ernsthaft zu überlegen. Und das ist die Linke, die wir verhindern wollen, mit der du aber schon angebandelt hast.«
»Stimmt nicht«, sagte Flick, und für einen Moment schien es Pfeiffer, als ob Flick in diesem Punkt die Wahrheit sagte.
»Beide haben wir keine Lust auf weitere Jahre in der Opposition, Justus. Aber was für mich persönlich wohl folgenreicher wäre, das hätte für die Grünen höchst unschöne Konsequenzen. Du riskierst ihre Existenz. Ich nur meine.«
»Dein Pathos in Ehren, Theoderich, aber ich habe gute Nerven. Warten wir die Wahlen ab, und ich bin mir sicher, dann sprechen wir wieder miteinander, zum Beispiel über Schwarz-Gelb-Grün.« Flick nahm sein Portemonnaie und zahlte seinen Anteil. »Getrennte Kasse, vorläufig«, grinste er, und auch Pfeiffer stand auf.
E s gibt keinen Namen, der hässlicher ist, dachte Kranich, keinen Namen, der unerotischer tönt. Man hat diese Vögel im Kopf, die alle so wunderschön finden, die nicht Kranich heissen. Kreisende Kraniche, sagenumwoben. Symbole der Wachsamkeit und Klugheit in der griechischen Mythologie, Vögel des Glücks in Japan, und Symbole für ein langes Leben und für Weisheit, finden die Chinesen. Und für Dichter stehen Kraniche gar für das Erhabene. Er aber war verkommen, wie die Wirklichkeit, in der ein Kranich wie er zu leben hatte, in schlafloser Wachsamkeit. Aber spektakuläre Balztänze? Mit einem Kranich? Eine Frau, die sich in einen Kranich verliebt?
Als Kind war Kranich ausgelacht worden. Kinder sind nicht kitschig.
Der Bankomat hatte seine EC-Karte geschluckt. Kranich versuchte es mit der Visacard. Der Automat spuckte auch diese nicht mehr aus. Und das Pfandleihhaus wollte sein Notebook nicht belehnen. Also brachte er ein paar Ringe und einen Armreif: achtzig Euro. Mehr gab es nicht. Seine Muskeln verkrampften sich. Kranich dachte: Ich bin stark. Aber dann stolperte er und verstauchte sich die Hand, mit der er sich abgestützt hatte, um den Sturz aufzufangen.
»Herr Kranich, kann ich Ihnen helfen?« Haxer stand vor ihm, der Kanzleramtschef. Wie peinlich. »Da sehen wir uns fast jeden Tag, Herr Kranich – gehen wir ein Stück zusammen? –, und trotzdem kennen wir uns eigentlich gar nicht. Als persönlicher Berater der Kanzlerin haben Sie natürlich eine besondere Stellung und brauchen sich mit hierarchischen Fragen nicht zu beschäftigen.« Haxer seufzte. »Wissen Sie, Herr Kranich, wir Politiker haben schon einen sehr seltsamen Beruf, und vermutlich haben die Leute recht, wenn sie sagen, dass wir ein Stück weit abgehoben sind. Aber wie ich höre, ist das in der Schweiz nicht ganz so ausgeprägt.«
Kranichs linke Hand war aufgeschürft und brannte. »Schweizer Politiker müssen sich verantworten, das ist vielleicht der grösste Unterschied.«
»Wie meinen Sie das? Ich hoffe doch nicht so, dass Sie der Ansicht sind, deutsche Politiker handelten unverantwortlich?«
»Nein«, sagte Kranich, »aber eine Sache ist den Schweizern meist noch ein bisschen wichtiger als ein Politiker, und so wird der Sache in der Regel mehr Gewicht beigemessen als der Politik.«
»Mit welchen Konsequenzen, Herr Kranich?«
»Mit der Konsequenz, dass mehr Sachpolitik gemacht wird, und wenn ein Politiker die Sache verfehlt, wird er abgewählt.«
»Haben Sie sich verletzt, Herr Kranich?«
Kranich rieb sich übertrieben fröhlich die Hände und sagte: »Nein, alles o.k.«
»So ein Unfall ist schnell geschehen«, sagte Haxer. »Eine kleine Unachtsamkeit nur, und schon fällt man hin, wenn nicht gar Schlimmeres …«
»Es ist mir nichts passiert«, sagte Kranich.
»Schon merkwürdig«, sagte Haxer. »Da leben wir Büro an Büro sozusagen und sind – jeder auf seine Weise – beide in enger Beziehung zu unserer Kanzlerin und wissen trotzdem kaum etwas über uns – ich jedenfalls nicht über Sie.«
»Es gibt auch nicht viel zu wissen über mich.«
»Auch die Kanzlerin hält sich in vielem sehr bedeckt, aber vielleicht macht sie da ja Ihnen gegenüber eine Ausnahme.«
»Sie redet und ich höre zu«, sagte Kranich.
»Sie ist eine ungewöhnliche Frau, unsere Kanzlerin, eine erstaunliche Frau. Ich bewundere sie sehr. Sie auch?«
»Sie ist …« Kranich brach den Satz ab.
»Sie hat faktisch auch keine Gegner mehr, parteiintern. Und das hat es, soweit ich weiss, noch nie gegeben, dass ein Kanzler fast konkurrenzlos war …«
»Davon weiss ich
Weitere Kostenlose Bücher