Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
bevorstehende Südamerikareise zum Beispiel. Tanja Sommer schenkte Wagner ein bedauerndes Lächeln, bevor sie zusammen mit dem von ihr noch vor wenigen Minuten als Stinkstiefel bezeichneten Politiker in Richtung Ausgang verschwand. Wagner fühlte sich in doppelter Hinsicht verschaukelt. An den abrupten Wechsel zwischen verbissenen, teils unflätigen Auseinandersetzungen, und freundschaftlichen Plaudereien hatte er sich auch nach Jahren im Politikbetrieb noch nicht gewöhnt. Politische Schaukämpfe zu inszenieren, geriet immer mehr in den Vordergrund und verdrängte die Inhalte, um die es doch eigentlich gehen sollte. Kopfschüttelnd ging er in sein Büro. Auf dem Weg dorthin beschloss er, den Abgeordneten Römermann aufzusuchen. Die Klinik lag in Römermanns Wahlkreis. Vielleicht hatte der Kollege nähere Kenntnisse. Er fand jedoch nur ein verwaistes Büro vor. Morgen ist auch noch ein Tag, sagte sich Wagner. Noch immer wartete der größte Teil der Unterlagen aus Brüssel darauf, gelesen zu werden. Die Lektüre des Grünbuchs für Verbraucherschutz erforderte seine volle Konzentration. Als sein Telefon klingelte, zuckte er zusammen. Auf dem Display sah er die Nummer von Pietro. Wagner befürchtete das Schlimmste. Schon wieder ein Sonderauftrag der Fraktionsvorsitzenden? Als er abhob, wurde am anderen Ende aufgelegt. Im ersten Augenblick war Wagner verärgert. Wenn sich der Schnösel schon verwählte, könnte er sich wenigstens entschuldigen. Plötzlich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Hatte Pietro sich gar nicht verwählt? Handelte es sich um einen Kontrollanruf im Auftrag seiner Chefin? Spionierte sie ihm nach?
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H ANNOVER
N OVEMBER 2009
Eigentlich konnte ich mit mir und meinem Leben zufrieden sein. Die Heidkamp Armaturen, nach dem Krieg als Einmann-Sanitätsbetrieb von meinem Vater gegründet, beschäftigte inzwischen vierundfünfzig Mitarbeiter. Dank wachsender Exporte waren die Auftragsbücher gut gefüllt, ich lebte in einem schönen Haus, hatte eine Tochter und einen Beruf, der mich ausfüllte. Es war auch nicht so, dass ich unzufrieden oder gar unglücklich war. Ich war einfach nur gestresst: die viele Arbeit, Eheprobleme und Ärger mit meiner Hausbank nagten an meinen Nerven
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Als ich an diesem verhängnisvollen Novemberabend meine Firma verließ, empfing mich ungemütliches, stürmisches Wetter. Die Vorstellung, mich mit einem Glas Rotwein vor den häuslichen Kamin zu setzen, war verlockend. Doch zu Hause wartete Renate. Und wie ich meine Frau kannte, würde sie die am Vorabend begonnene Auseinandersetzung fortführen wollen. Renate nannte das „ausdiskutieren“, mir trieb es den Blutdruck hoch. Die Alternative, das alljährlich um diese Zeit stattfindende Gänseessen des Unternehmerverbandes, erschien mir auch nicht sonderlich reizvoll. Diese Veranstaltungen hatten den Unterhaltungswert einer Schlaftablette. Jedes Jahr dasselbe Hotel, das gleiche Essen, die gleichen Tischreden. Immer noch besser als Ehekrach, beschloss ich und fuhr zum „Hotel am Flughafen“. Die Parkgarage war wie üblich rappelvoll. Ich verbrachte fast zehn Minuten damit, meinen Mercedes in die einzige freie, enge Parklücke zu manövrieren. Schweißtreibende Millimeterarbeit. Ein Wink des Schicksals? Noch hätte ich umkehren und die Katastrophe verhindern können. Ich tat es nicht
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Der festlich geschmückte Saal war voller Menschen, überwiegend Männer im dunklen Zwirn. Eine gepflegte Rothaarige mit hochhackigen Schuhen, die jeden Orthopäden zur Weißglut getrieben hätten, stöckelte auf mich zu. Während sie mich zu Tisch sieben führte, donnerte der Verbandspräsident seine alljährliche Abrechnung mit der Politik durchs Mikrofon. Worte wie „Finanzkrise“, „drohende Wirtschaftskrise“, „Bankenkrise“ und „Vertrauenskrise“ fielen
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„Bei so vielen Krisen vergeht einem glatt der Appetit“, flüsterte mir der glatzköpfige Mann zu meiner Rechten ins Ohr. Eine Bemerkung, die mir den Mann auf Anhieb sympathisch machte
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Eine glückliche Fügung wollte es, dass der Hauptredner des Abends im Stau stand und nicht mehr rechtzeitig eintreffen würde. Der gesellige Teil des Abends konnte beginnen. Der Glatzköpfige stellte sich als Tobias Wächter vor, Abgeordneter des Niedersächsischen Landtages und stellvertretender Vorsitzender der Bürgerpartei. Mein Name war ihm bekannt. „Hat Ihr Unternehmen nicht den Innovationspreis erhalten?“, erkundigte er sich
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Ich nickte höflich, während ich mich fragte, wann
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