Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
Römermann meckerte über die Deutsche Fluggesellschaft, die außer Preiserhöhungen und Personalabbau nichts vorzuweisen habe. Dann hatten sie es endlich geschafft und nahmen im Wartebereich Platz: Wagner, Römermann und die Quoten-Peters. Römermann unterhielt die müde Truppe mit Witzen.
Als Wagner zum wiederholten Male gähnte, wurde er von Römermann einer kritischen Musterung unterzogen. „Was soll das heute mit Ihnen werden, wenn Sie jetzt schon schlappmachen? Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf und bin putzmunter. Die jungen Männer heutzutage halten nichts mehr aus. Mit dieser Generation kann man keinen Krieg gewinnen, sage ich immer.“
„Auch ohne die von Ihnen kritisierte Generation haben wir zwei Weltkriege verloren“, warf Frau Peters pikiert ein.
Römermann reagierte brüskiert. „Nur weil Deutschland sich mit Russland überworfen hat. Gegen ein riesiges Land wie Russland kann man keinen Krieg gewinnen. Selbst Napoleon …“
Er kam nicht mehr dazu, seine historischen Erörterungen zu Ende zu bringen, da sie in diesem Moment aufgefordert wurden, ihre Plätze im Flugzeug einzunehmen. Wagner hatte Glück und einen Platz weit ab von seinen Landtagskollegen. So konnte er während des Fluges vor sich hin dösen.
Am Flughafen in Brüssel wurden sie von der neuen Leiterin der Landesvertretung in Empfang genommen. Sie zeigte sich geschäftsmäßig kühl. Oppositionspolitiker zu betreuen, gehörte zu den unangenehmen Aufgaben der Landesvertretung. Ein Kleintransporter stand bereit, um die Gäste aus Hannover in die Rue de la Loi zum Sitz der EU-Kommission zu chauffieren. Die Fahrt durch Brüssel ging trotz vierspuriger Fahrbahnen nur stockend voran. An etlichen Hochhäusern waren „To-let“-Schilder angebracht, was Römermann zu düsteren Betrachtungen über den unmittelbar bevorstehenden Niedergang der EU bewog. Mit Verspätung erreichten sie ihr Ziel. Obwohl Wagner nicht zum ersten Mal hier war, fühlte er sich auch heute wieder von den Ausmaßen und der Kälte des gigantischen Gebäudes erschlagen. Zusammen mit seinen Hannoveraner Kollegen reihte er sich in die Besucherschlange ein, die von mürrisch dreinschauenden Sicherheitsbeamten kontrolliert wurde.
Römermann war verärgert, weil der Vortrag in englischer Sprache abgehalten und nur ins Französische übersetzt wurde. „Eine ausgemachte Sauerei ist das“, wetterte er. „Wir Deutschen sind zusammen mit den Österreichern fast hundert Millionen Menschen und die anderen viel weniger.“
„Ruhe“, zischelte Frau Peters. Unterdessen erläuterte der referierende Generaldirektor, ein Spanier, den neuen Finanzrahmen. Von Haushaltsdisziplin, Finanzmarktsteuern und strengerer Aufsicht war die Rede. Römermann, der sich zu Wagners Leidwesen neben ihn gesetzt hatte, schnaubte wie ein Walross. „Ausgerechnet ein Südeuropäer erzählt uns etwas über Haushaltsdisziplin. Das ist ja so, als ob ein Puffbesitzer sexuelle Enthaltsamkeit predigt. Ungeheuerlich. Ein Skandal ist das! Der Kerl soll erst einmal in seinem eigenen Saustall aufräumen.“
Dieses Mal baten auch andere um Ruhe. Wagner war peinlich berührt. Römermann seinerseits war eingeschnappt und verließ grummelnd die Veranstaltung. Auch Wagner wäre gerne gegangen. Wer in Gottes Namen soll bei den komplizierten Grafiken und Tabellen noch den Durchblick bewahren? Er für seinen Teil verstand nur Bahnhof, und auch den Mienen der anderen Zuhörer war abzulesen, dass es ihnen nicht besser erging. Wagner hatte das bedrückende Gefühl, den Brüsseler Bürokraten ausgeliefert zu sein. Unangenehme Fragen gingen ihm durch den Kopf: Haben die wirklich die richtigen Konzepte, um den kranken Euro zu retten? Oder steuern die EU und Deutschland auf eine Währungsreform zu? Besser gar nicht darüber nachdenken. Ändern konnte er als niedersächsischer Abgeordneter ohnehin nichts.
Nach dem Vortrag war Lunch angesagt. Die Landesvertretung hatte einen Tisch in einem gemütlichen Restaurant in der Fressgasse in der Nähe des Grand-Place reserviert. Jetzt ließ sich auch Kollege Römermann wieder blicken, voll bepackt mit Einkaufstüten erteilte er freimütig und ungefragt Auskunft. „Vier Schachteln Neuhauspralinen, eine für meine Frau, der Rest für unsere Sekretärinnen. Man lässt sich ja nicht lumpen!“ Der Abgeordnete hatte zu seiner Geschwätzigkeit zurückgefunden und unterhielt die Runde mit Anekdoten über EU-Bürokraten. Er selbst lachte über seine Scherze am lautesten.
Nach dem
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