Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
also noch ein paar Jahrhunderte existieren.«
Er grinste amüsiert. Sein ursprüngliches Anliegen schien er völlig vergessen zu haben. »Woher kommt Ihr, Cassandra?«
»Aus Vinci«, erklärte ich. Das würde ebenso meinen toskanischen Akzent erklären wie meinen Aufenthalt bei Leonardo.
»Cassandra da Vinci«, sagte er. » Cassandra vincerà – Cassandra wird siegen.«
Ich lachte über sein Wortspiel. »Den trojanischen Krieg hat sie nicht gewonnen …«
»Ach nein? Ich dachte, sie hätte dem Sieger den Kopf verdreht.«
»Ihr seid nicht Agamemnon, Signor Castiglione. Ihr müsst mich also nicht fürchten.«
»Ich habe keine Angst vor Euch!«, lachte er übermütig. »Es wäre mir ein Vergnügen, mich von Euch besiegen zu lassen.«
»In welcher Disziplin, mein Held?«, neckte ich ihn. »Im olympischen Wettkampf oder in der philosophischen Disputation?«
» Jede Disziplin, Cassandra. Die Kunst des Krieges, die Kunst des Denkens oder die Kunst der Liebe, ganz wie Ihr wünscht«, erklärte er mit einem so charmanten Lächeln, dass ich ihm wegen seiner Unverfrorenheit nicht einmal böse sein konnte.
»Also gut«, forderte ich ihn heraus. »Dann wähle ich den Pentathlon, den Fünfkampf.«
»Laufen, Diskos- und Speerwerfen, Weitspringen und Ringen?«, fragte er verblüfft.
»Nein, Signore: Die philosophische Disputation, das Fechten mit Wort und Schwert, der Marathonlauf eines durchtanzten Abends, der nicht in meinem oder Eurem Bett enden wird.«
Er verzog keine Miene. »Und die fünfte Disziplin?«
»Geduld, Ausdauer und … viel Fantasie.«
Baldassare ertrug meine Launen mit bemerkenswerter Gelassenheit. Es war mehr als zwei Jahre her, seit ich Cesare in Rom verlassen hatte, und ein endloses Jahr, seit Giovanni meine Hand zum letzten Mal losgelassen hatte. Doch so sehr ich mich auch nach Leidenschaft und Zärtlichkeit, nach Verständnis und Geborgenheit sehnte: Baldassares Freundschaft war mir wichtiger als eine stürmische Affäre, der Rausch einer Nacht und eine verlegene Trennung im Morgengrauen, ohne dem anderen in die Augen zu sehen. Ich wollte ihm die Chance geben, all die Splitter des zersprungenen Spiegels meines Selbst kennen zu lernen, in denen er sich spiegeln wollte, all die funkelnden Facetten, die ihn so faszinierten, damit er sich dann entscheiden konnte, ob er meine scharfen Kanten ertragen wollte. Ich machte es ihm nicht leicht, aber er gab nicht auf, denn er wusste, warum ich ihn auf Distanz hielt: Er glaubte wie ich an die freie Selbstbestimmung des Menschen und befolgte – das war sein erstes Gebot – nur die Regeln, die er selbst aufgestellt hatte. Sein zweites Gebot lautete: Tu, was immer du willst, und gewähre dieses Recht auf Freiheit auch jedem anderen.
Baldassare war ein Maestro des Bel vivere. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mir Freude zu bereiten, mich zu beeindrucken, mich zu überraschen, mich zu verzaubern, und das gelang ihm. Immer. Er kam täglich zur selben Zeit in den Palazzo Vecchio, und jedes Mal brachte er mir etwas mit, einen Gedichtband von Petrarca, eine Schachtel Marzipankonfekt oder eine besonders schöne Vase aus Murano. Die Geschenke waren kostbar und geschmackvoll und immer so gewählt, dass ich mich zu nichts verpflichtet fühlen musste. An manchen Abenden ließ er von seinen Dienern ein mehrgängiges Abendessen zubereiten und den Tisch mit einem weißen Damasttischtuch, silbernen Kerzenleuchtern und Tellern und Gläsern aus Empoli decken, um die halbe Nacht mit mir zu speisen und bei einem Glas Montepulciano zu diskutieren.
Wir sprachen über alles, was uns bewegte, während wir am Po entlangwanderten oder nach Novara, Pavia oder Bergamo ausritten. Wir besuchten Leonardo in Santa Maria delle Grazie und sahen zu, wie er das Abendmahl malte. Die endlosen Gespräche mit ihm waren kein philosophischer Disput, wie ich ihn mit Giovanni geführt hatte, und auch keine wissenschaftliche Differenz, wie ich sie mit Leonardo beim Abendessen führte. Sie waren persönlicher … intimer. Sie hatten weder Gott noch die Welt zum Thema, sondern nur uns selbst.
Anfang Dezember bat ich Baldassare, mir Fechtstunden zu geben. Die geschmeidigen Bewegungen mit der schweren Waffe würden meinen schmerzenden Gliedern gut tun, hoffte ich. Baldassare sah mich erstaunt an, als ich diesen Wunsch äußerte, mit ihm zu fechten, und machte noch größere Augen, als ich ihm meinen Degen zeigte, den ich aus Florenz mitgebracht hatte.
»Du besitzt einen Degen, Cassandra?«, fragte
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