Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
mit der Medizin zu beschäftigen, die Werke des Galenos und des Abu Ali Ibn Sina zu lesen, sondern auch den menschlichen Körper zu sezieren. Und ich beschäftigte mich mit der Mathematik. Mit Leonardos Freund, dem Mathematiker Luca Pacioli, diskutierte ich über die Magie der arabischen Zahl null, die, obwohl sie das Nichts repräsentierte und im Grunde gar nicht existierte, so viel Macht besaß, jede andere Zahl zu potenzieren oder durch Multiplikation zu negieren. Welch ein faszinierendes Analogon zu mir selbst, die auch nicht existierte und durch ihr Wissen doch so viel Macht besaß!
Es war kurz vor Mitternacht, als ein Diener mein Laboratorium betrat. Müde starrte ich in den Alambic und bemerkte seine Anwesenheit erst gar nicht. Ich hatte gelesen: Auf meinen Knien lag aufgeschlagen Albertus Magnus’ Physica, in der der Dominikaner das Wissen der Welt zusammengetragen hatte. Albertus’ Werk war inspirierend, faszinierend, geradezu erleuchtend, aber es beantwortete mir nicht die Frage, die mich zurzeit am meisten quälte: »Warum nicht?«. Während dieser düsteren Wochen nach Beatrices Tod laborierte ich an der Mortificatio, aber sie gelang mir nicht. Ich hatte drei Mal versucht, die Materie zu töten – aber ohne Erfolg.
»Signorina?«, erinnerte mich der Diener an seine Anwesenheit.
»Was ist?«, fragte ich ungeduldig. Herzog Ludovico hatte an diesem Abend bereits zwei Mal nach mir gefragt, und ich hatte ihm ausrichten lassen, dass ich später zu ihm kommen würde: Er möge sich in Geduld üben.
Der Diener reichte mir ein gefaltetes Pergament. »Dieser Brief ist vor wenigen Minuten am Tor des Castello für Euch abgegeben worden. Er scheint dringend zu sein. Immerhin ist es schon Mitternacht …« Er verschwand und schloss leise die Tür des Laboratoriums hinter sich.
Eine Nachricht von Niccolò? Freudig erregt entfaltete ich das Schreiben. Dass der Brief nicht gesiegelt war, hätte mich eigentlich misstrauisch machen müssen. Aber ich war so begierig, von Niccolò oder von Gianni zu hören, dass ich darauf nicht achtete.
Die Nachricht war in einer beinahe unleserlichen, zittrigen Schrift hingekritzelt:
»Ich brauche dich! Gott hat mich verlassen – wenn auch du mich verlässt, könnte ich es nicht ertragen. Hilf mir, wie ich dir geholfen habe. Ich warte auf dich im Palazzo Vecchio. Ich flehe dich an: Komm sofort!«
Die Unterschrift war ein zitteriges C oder G mit einer abgebrochenen Verzierung oder einem unvollendeten zweiten Buchstaben. Wer war C oder G?, durchfuhr mich das Entsetzen. Wer wusste denn, dass ich in Mailand war, außer …
Gianni?
War er so krank, dass er mich um Hilfe bat? Um Aurum potabile? Nein, er kannte die Nebenwirkungen, die unweigerlich zum Tod führen würden. Und wenn er so krank war, dass er verzweifelte, würde er mich bitten, zu ihm nach Rom zu kommen. Nein, Gianni hatte mir nicht geschrieben.
Girolamo!
Es war in Florenz Brauch, während des Karnevals auf der Piazza della Signoria Feuer zu entzünden, um die ausgelassen getanzt wurde. Auch Girolamo hatte am 7. Februar ein solches Freudenfeuer entzündet, aber es war ein Fegefeuer der Eitelkeiten gewesen. Nach einer flammenden Predigt auf der Piazza della Signoria – er zitierte das Lukas-Evangelium: »Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, wenn es schon brennen würde!« – hatte er auf einem gigantischen Scheiterhaufen bestickte Seidenstoffe und kostbaren Atlas verbrannt, erotische Kunstwerke, Marmorstatuen und wertvolle Gemälde, ketzerische und frivole Bücher, Musikinstrumente, Würfel, Schachspiele aus Elfenbein, aufwändige Perücken, Parfums, Spiegel und Karnevalsmasken. Girolamo hatte sein Purgatorium vanitatis entzündet, um Florenz zu reformieren.
War er dieses Mal in seinem heiligen Zorn zu weit gegangen? Hatten die Florentiner gegen diese erbarmungslose Zerstörung von Schönheit und Gelehrsamkeit, den Ikonen des florentinischen Humanismus, protestiert und sich gegen den fanatischen Frater erhoben? Hatte Girolamo aus der Stadt fliehen müssen? War er zu mir gekommen, damit ich ihn versteckte, wie er mir während meiner Flucht aus Florenz geholfen hatte?
Ich musste sofort zu ihm! Und so eilte ich in meine Wohnung, zog mir Hemd, Hosen und Reitstiefel an, gürtete mich mit meinem Degen und ritt mitten in der Nacht ohne Begleitung durch die stillen Straßen von Mailand zum Palazzo Vecchio.
Im Hof sprang ich aus dem Sattel und sah mich um. Die Arkaden waren in tiefe
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