Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
über mein Verschwinden, aber auch ängstlich, ich könnte dieses Mal entkommen sein, seine Offiziere anbrüllte, mich zu ihm zurückzubringen.
Bisher waren alle meine Fluchtversuche gescheitert. Das Castello Sforzesco war wegen der bevorstehenden Invasion eine der bestbewachten Festungen Italiens – was mich nicht davon abhielt, trotzdem immer wieder die Flucht zu versuchen. Nicht nur, weil ich die Unfreiheit nicht ertrug, nicht nur, weil es mich furchtbar langweilte, jeden Tag in den Alambic zu starren, in dem sich doch nichts veränderte, sondern weil ich Ludovico ärgern wollte. Ich wusste, dass er den Befehl gegeben hatte, mich nicht zu töten, aber vor allem wusste ich, in welche Panik er verfiel, wenn ihm gemeldet wurde, ich sei aus dem Laboratorium verschwunden, und niemand wusste, wo ich war. Vor allem aber wollte ich ihm beweisen, dass er meinen Willen nicht brechen konnte.
In dem Durcheinander aus rennenden Männern, gezogenen Schwertern und Fackeln bemerkte niemand, wie ich den Haken an einer der schmalen Schießscharten des Wehrgangs befestigte, mich durch die enge Öffnung hinausschob und am Seil hinabglitt. Endlich!, dachte ich, atmete tief die Luft der Freiheit ein und streckte meine schmerzenden Glieder.
Freiheit! Selbstbestimmung! Dieses überwältigende Gefühl wollte ich genießen – solange es andauerte.
Dann machte ich mich auf den Weg zur Santa Maria delle Grazie. Noch während ich durch die unbeleuchteten Seitenstraßen ging, galoppierten mehrere Bewaffnete durch die stillen Gassen, die mich offensichtlich in der Stadt zu finden hofften, noch während das Castello nach mir abgesucht wurde. Ludovico scheint wirklich langsam die Nerven zu verlieren!, dachte ich.
Gerade als ich aus einer unbeleuchteten Gasse auf die breite Straße hinaustrat, die nach Westen zur Santa Maria delle Grazie führte, hörte ich Hufschläge auf dem Steinpflaster hinter mir. Ich wirbelte herum: Die Palazzi zu beiden Seiten der Straße waren mit Fackeln an den Fassaden erleuchtet. Die Reiter kamen näher. Wohin sollte ich mich wenden? Ich rannte los, in westlicher Richtung, hastete über das holperige Steinpflaster, stolperte, fing mich wieder und hetzte keuchend weiter, bis ich im letzten Augenblick in einem unbeleuchteten Torbogen eines Palazzo verschwand. Nach Atem ringend presste ich mich gegen das Bronzetor. Augenblicke später galoppierten die Reiter an mir vorbei, ohne mich zu sehen.
Wenig später erreichte ich die Kirche. Es war lange nach Mitternacht, und ich hoffte inständig, Leonardo wäre noch nicht in den Palazzo Vecchio zurückgekehrt. Leise betrat ich das Refektorium. Er war noch da! Im Schein mehrerer Kerzen stand Leonardo auf dem Gerüst und malte gedankenverloren die Gesichtszüge Christi im Letzten Abendmahl.
Müde, aber gut gelaunt ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und beobachtete ihn.
Er hatte mich bemerkt, legte Pinsel und Farbgefäß beiseite und sprang vom Gerüst. »Gefällt es dir?«, fragte er. Er wischte sich die farbfeuchten Finger an einem Leinentuch ab, während er ohne Eile zu mir herüberkam. Meine Anwesenheit schien ihn kein bisschen zu überraschen.
»Es ist außergewöhnlich! Ich wollte es unbedingt sehen.«
»Bist du deshalb aus dem Castello geflohen?«, fragte der Maestro.
»Ich wollte sehen, wie du die Separatio vollbringst. Du wirst das Fresko heute Nacht fertig stellen.«
»Nicht, wenn du mich von der Arbeit abhältst.«
»Ich werde nicht lange bleiben«, versprach ich ihm.
»Natürlich nicht! Sie werden dich finden und zurückbringen.«
Die Wachen des Herzogs fanden mich nur wenige Minuten später. Zehn Bewaffnete stürmten mit gezogenen Schwertern in den Saal und versperrten die Fluchtwege. Die Tatsache, dass ich innerhalb der Kirche Anspruch auf Asyl hatte, schien sie nicht weiter zu kümmern. Kardinal Ascanio hätte mich sowieso mit einem entschuldigenden Lächeln seinem zornigen Bruder ausgeliefert.
Seufzend, als hätte ich früher mit ihrem Erscheinen gerechnet, erhob ich mich und trat ihnen entgegen, um mich von ihnen widerstandslos zurück ins Castello führen zu lassen.
Wohin hätte ich auch fliehen sollen?
Ludovico tobte, als er mich sah. Wie ein gereizter Tiger lief er in seinem Audienzsaal auf und ab und warf mir zornige Blicke zu.
Was ihn am meisten ärgerte, war nicht, dass ich immer wieder zu fliehen versuchte, dass er meinen Willen nicht brechen konnte, oder dass er bei meinem Verschwinden jedes Mal in Todesangst verfiel, sondern dass
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