Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
die Arkana, die dem eingeweihten Adepten so viel Macht verliehen, nutzen? Einen Augenblick lang hatte ich in Erwägung gezogen, ihn zu täuschen, ihn mehr zu verwirren als zu lehren, doch diesen Gedanken verwarf ich schnell wieder. Nicht weil ich fürchtete, dass er dahinter kommen würde, sondern weil ich nur diese eine Chance in meinem Leben hatte, mein Wissen weiterzugeben. Mochte es in die richtigen Hände fallen! Und es war meine, allein meine Verantwortung als Maestra, genau das sicherzustellen.
»Erhebe dich!«, befahl ich ihm schließlich.
Ächzend richtete er sich auf, bis er vor mir kniete. Ich half ihm auf. »Wirst du mich jetzt examinieren, Maestra?«, fragte er.
Ich nickte kurz. »Deine Aufgabe besteht aus zwei Teilen: einer Frage und einer Antwort.«
Er sah mich verblüfft an. »Einer Frage und einer Antwort?« Als ich nickte, fragte er: »Wie lautet die Aufgabe?«
»Der Mensch ist geboren, die Welt zu verändern und sie in einen Zustand höherer Vollkommenheit zu transmutieren«, sagte ich.
»Ist das die Frage oder die Antwort?« Verwirrt dachte er eine Weile über den Satz nach. War es ein Zitat aus den Evangelien oder den alttestamentlichen Prophetenbüchern von Jesaja oder Jeremia? Ein Lehrsatz von Thomas von Aquino oder Aurelius Augustinus? Die Erkenntnis eines muslimischen Mystikers? Ein gnostisches Credo? Mystische Kabbala? Oder …
»Das ist das Gebot des Alchemisten – das ethische Gesetz, das er während all seiner Bemühungen unbedingt einhalten muss, um …«
»Um was?« , lauerte ich. Eine falsche Antwort, Rodrigo, und ich werde dich nicht lehren! Das schwöre ich im Angesicht Gottes!
»… um …« Er hielt inne, weil er ahnte, was für ihn auf dem Spiel stand. Um das al-Iksir zu finden und unsterblich zu werden? Um Gold herzustellen und reich zu werden? Um die gloire immortelle zu gewinnen? »… um durch die Transmutationen der Materie im Alambic und der Vervollkommnung seiner selbst … die Welt …«
»Vergiss Gott nicht!«, erinnerte ich ihn. Mein Tonfall war nicht gerade ermutigend.
»… die von Gott erschaffene Welt … zu vervollkommnen.«
»Ist das deine Antwort, Rodrigo?«, fragte ich scharf. »Du willst Gottes Werk verbessern? Du willst sein wie Gott? Du willst Ihn noch übertreffen? Für eine solche Antwort haben Alchemisten auf dem Scheiterhaufen der Inquisition gebrannt!«
»Du versuchst, mich irre zu machen!«, beschwerte er sich: »Das ist meine Antwort.«
»Ich akzeptiere sie, Rodrigo«, nickte ich ohne einen Hauch eines anerkennenden Lächelns. Ich war ja mit ihm noch nicht zu Ende! »Und nun kommt der zweite Teil der Prüfung.« Ich führte Rodrigo zum Arbeitstisch und deutete auf drei Gegenstände, die dort lagen: » In hoc signo vinces – In diesem Zeichen wirst du siegen. Wähle!«
Rodrigo starrte mich an. »Das sind die göttlichen Worte, die Kaiser Konstantin vor der Entscheidungsschlacht hörte und die ihn zum Christentum bekehrten.« Dann blickte er auf die drei Gegenstände auf dem Werktisch: eine Rose, ein Schwert, ein hölzernes Kreuz.
»Das sind die Symbole für … Glaube, Hoffnung, Liebe … oder … Eros, Kosmos, Logos … oder … Liebe und Hass, Gut und Böse, Gott und Satan.« Er ergriff das hölzerne Kreuz und hob es empor. »In diesem Zeichen des Glaubens und der Hoffnung siegte Konstantin. Mithilfe des Schwertes.« Er legte das Kreuz neben das Schwert. Doch dann besann er sich und legte die rote Rose quer über die scharfe Klinge des Schwertes: »Die Liebe siegt über die Gewalt? Vergebung ist möglich …«
Mit einem amüsierten Lächeln beobachtete ich, wie er Rose, Kreuz und Schwert in immer neue Konstellationen verschob.
»In diesem Zeichen wirst du siegen«, murmelte er. Dann kam ihm die Erleuchtung. »Das vincere, das Siegen, ist falsch an der Frage. Es gibt kein Zeichen, kein Symbol des Sieges: weder die Rose noch das Schwert oder das Kreuz. Weder der Glaube und die Hoffnung noch die vergebende Liebe oder der vernichtende Hass sind die ultima ratio und können am Ende triumphieren. Es ist etwas, das ich tun muss. Es ist eine Handlung … eine Entscheidung, die ich treffen muss.« Entschlossen fegte Rodrigo Rose, Schwert und Kreuz mit einer einzigen Armbewegung vom Arbeitstisch. Klappernd fiel das Schwert zu Boden, der Griff zerbrach das Holzkreuz, und die scharfe Klinge zerschnitt die Blütenblätter der Rose.
Rodrigo kniete sich vor mir auf den Boden und neigte den Kopf. »In diesem Zeichen wirst du siegen: Demut! Ich
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