Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
den er sich während der Messe stützte, hatte die Kirche verlassen, und Angelo war bei Gianni, der noch immer Giulio zur Vernunft zu bringen versuchte. Niemand sah, wie Lorenzo schwankte. Das lange Stehen während der Predigt und sein Zorn über Fra Marianos Ausbruch gegenüber Savonarola hatten ihn geschwächt. Seine Hand griff ins Leere, als suchte er nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber da war niemand!
»Lorenzo!«, flüsterte ich und legte meinen Arm um seine Schultern, um ihn vor dem Sturz zu bewahren. »Ich bin hier.«
Sein Lächeln war gequält: »Hilf mir, diese Kirche in Würde zu verlassen, Caterina! Ich habe Schmerzen, muss mich hinlegen …«
Wie blass er aussah! Wie zerbrechlich!
»Ich werde dich nach Hause bringen, Lorenzo«, versprach ich ihm.
An Cesare vorbei zog ich ihn zum nördlichen Kirchenportal, das zur Via San Gallo führte, wo sich das Gartentor des Palazzo Medici befand. Ich ahnte, dass Lorenzo nicht mehr in der Lage war, die wenigen Schritte um den Palazzo herum zum Portal zu gehen, und ich wusste, dass er den Kopf gesenkt hielt, damit niemand ihm seine Schmerzen – und seine Scham – ansah …
… aber alle anderen, die an jenem Abend in der Kirche waren, empfanden Lorenzo de’ Medicis überstürzte Rückkehr in seinen Palazzo als Flucht vor Girolamo Savonarola.
Eine Stunde lang wachte ich an Lorenzos Bett, dann konnte ich das Stillsitzen, das Lauschen auf seinen Atem und das Warten nicht mehr ertragen. Während die anderen im Speisesaal versuchten, mit köstlich duftendem Weihnachtsbraten, gewürztem Wein, Lebkuchen und feierlichen Chorälen von Josquin Desprez in sinnlich-besinnliche Weihnachtsstimmung zu kommen, verließ ich – dieses Mal in Hemd und Hosen – den Palazzo und machte mich auf die Suche nach Giovanni.
Am Tor von San Marco teilte mir ein Frater mit, dass weder der Prior Savonarola noch der Conte von Concordia im Kloster wären. Als ich unbeherrscht fluchte, bekreuzigte sich der Frater und schlug das Tor des Konvents zu.
Wo, zum Teufel, waren die beiden hingegangen? Es war lange nach Mitternacht. Dunkel und eisig kalt lagen die verschneiten, menschenleeren Straßen vor mir. Die Trattorien hatten schon seit Stunden geschlossen, und nur die Kirchen waren in der Heiligen Nacht noch geöffnet. Wohin würde ein Dominikaner gehen? Sicher nicht in eine franziskanische oder augustinische Kirche. Den Weg quer durch Florenz bis Santa Croce oder Santo Spirito konnte ich mir also ersparen.
Im dichten Schneetreiben ragte Santa Maria Novella wie ein Berg aus Eis vor mir aus den Schatten der Winternacht – die Fackeln am Gotteshaus waren erloschen. Ich stieß das Portal auf, und die bronzenen Torflügel fielen hinter mir ins Schloss.
Giovanni und Fra Girolamo hockten nebeneinander, an einen geschnitzten Betstuhl gelehnt, vor Masaccios Fresko der Trinità. Um sie herum brannte ein weiter Kreis von Kerzen, die sie offensichtlich – wie den Messwein in den beiden silbernen Bechern – aus der Sakristei entwendet hatten. Keiner von beiden war mit gutem Gewissen als nüchtern zu bezeichnen, aber Giovanni schenkte erneut Fra Girolamos Becher voll und redete auf ihn ein, als sei der Seelenfrieden des Priors ernsthaft in Gefahr.
»Eine seltsame Art, die Weihnachtsnacht zu feiern«, sagte ich, als ich in den Schein der Kerzen trat.
»Caterina!«, rief Giovanni erschrocken. »Was tust du hier?«
»Ich suche dich, Maestro. Lorenzo hatte während der Messe einen Zusammenbruch. Es ist schlimmer als je zuvor. Er liegt im Bett, spricht mit niemandem und hält die Augen geschlossen.«
»O mein Gott!« Giovanni sprang auf und stieß dabei den Silberbecher mit dem Messwein um, der rot wie Blut über die Steinplatten lief. »Wir müssen sofort in mein Laboratorium zurückkehren! Wir hätten das Opus nicht unterbrechen dürfen!«
»In der Heiligen Nacht?«, begehrte Fra Girolamo auf. Dass Giovanni Lorenzo helfen wollte, schien ihn weniger zu beunruhigen, als dass das Opus Diaboli in der Weihnachtsnacht vollendet werden sollte. »Bist du verrückt geworden, Giovanni? Du versündigst dich! Und Ihr auch, Caterina! Gott wird Euch strafen!«
»Wenn Gott mir vergelten will, dass ich versuche ein Leben zu retten, dann soll er es tun«, sagte ich trotzig. »Er hat mir einen freien Willen gegeben. Wenn es Ihm also nicht gefällt, dass ich Entscheidungen treffe, die Ihn zornig machen, hätte Er sich das vorher überlegen sollen.«
Müde starrte ich auf die brodelnde Materie im
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