Die Karte Des Himmels
Angst.
Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte die Runde. Dann brach eine verrückte Geschäftigkeit aus: Die Männer rannten los, um die Pferde zu beruhigen, die Frauen scheuchten sich gegenseitig in die Wagen.
Zwischen all dem Wiehern und dem Schreien konnte man hören, wie jemand durch das Unterholz brach. Dann folgte ein zweiter Schuss und das Gelächter eines Mannes, der sich entfernte. Jacko und Ted, der andere Onkel, schnappten sich einen brennenden Ast aus dem Feuer und nahmen die Verfolgung auf, aber Jessie wusste, dass es bereits zu spät war.
Irgendetwas in dem Gelächter hatte in Jessie eine Saite zum Klingen gebracht. Aber damals hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht.
»Und was war mit dir, Gran? Was hast du getan?«, rief Jude, als Jessie ihr am Nachmittag die Geschichte erzählte.
»Ich hatte furchtbare Angst, Liebes. Also bin ich einfach aufgesprungen und nach Hause gerannt, ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Den Weg kannte ich auswendig, selbst im Dunkeln. Ich rannte über den Pfad zurück und dann den Hügel hinunter. Ich kann dir sagen, ich sah vielleicht aus, als ich endlich zu Hause war!«
Jessie erinnerte sich an ihr Gesicht im Badezimmerspiegel – vollkommen rußig und tränenverschmiert. Ihre Kleidung stank nach Rauch und merkwürdigem Essen. Sie war froh, in Sicherheit zu sein, aber ihre Eltern waren immer noch wütend. Wie hatte sie es nur wagen können, sich nachts im Wald herumzutreiben? Ganz besonders bei »diesen Zigeunern«. Aber Jessie dachte, dass ihre Eltern nichts gegen die Zigeuner hatten. Nun ja, es gab Grenzen, nicht wahr, und diese Grenzen hatte Jessie meilenweit überschritten. Alles Mögliche hätte ihr zustoßen können. Sie hätte sogar tot sein können oder noch schlimmer. Ein Gewehrschuss hatte sie erschreckt? Das sei ihr hoffentlich eine Lehre, hatte es geheißen.
Sie hatte geweint, als sie ins Bett verbannt wurde.
Als sie im Bett lag, das kummervolle Jaulen der Füchsin hörte und über die Ereignisse des Abends nachdachte, erinnerte sich Jessie wieder an das Gelächter.
»Es war Dicky«, erzählte sie Jude. »Er muss uns beobachtet haben, als wir zusammen den Hügel hinaufgegangen sind. Das Gewehr hatte er wohl seinem Vater gestohlen.«
»Was ist dann passiert, Gran?«, fragte Jude, noch ganz gefangen von der dramatischen Geschichte. »Ist er bestraft worden?«
»Nein, damals nicht. Ich hab’s niemandem erzählt«, sagte Gran schließlich. »Ich wusste, dass Dicky dahintersteckte, und Dicky wusste, dass ich es wusste. Am nächsten Tag in der Schule habe ich es ihm an den Augen abgelesen, an seinem herausfordernden Blick. ›He, was willst du schon dagegen machen‹, sagte dieser Blick. Ich hatte Angst vor ihm. Außerdem hatte er seine Bande. Sie würden lügen, würden behaupten, dass er bei einem von ihnen gewesen sei. Und ich konnte nichts beweisen. Niemand hatte ihn gesehen. Was nützte es also, wenn ich es erzählte? Später habe ich mein Schweigen bereut. Aber wenn man sehr jung ist, kann man sich schwach und dumm fühlen, und man vergisst schnell. Dinge, die aus der Sicht der Erwachsenen einfach und vernünftig aussehen, sind für Kinder ganz anders.«
»Aber hat Tamsin dir nicht geholfen?«
»Tamsin ist am nächsten Tag nicht in der Schule erschienen. Am übernächsten Tag auch nicht und überhaupt niemals wieder. Ich habe meinen Bruder Charlie die Foxhole Lane raufgeschickt, um nach ihr zu sehen. Als er zurückkam, sagte er, sie wären alle weg.«
»Das war also das letzte Mal, dass du sie gesehen hast?«
»Oh, nein, die Zigeuner sind noch öfter zur Foxhole Lane gekommen. Aber erst mal für längere Zeit nicht, und danach hieß es, Tamsin habe ihre Schulzeit hinter sich.«
»Und wann hat sie dich für immer verlassen? Wann hast du die Halskette an dich genommen?«
Plötzlich wirkte Jessies Miene so streng, dass Jude wünschte, nicht so geradeheraus gefragt zu haben.
»Dazu komme ich, wenn ich fertig bin.« Jessie machte eine ungeduldige Handbewegung, und Jude wusste, dass die Unterhaltung für den Rest des Tages vorbei war.
Jude kehrte mit einem Blatt Papier nach Starbrough Hall zurück, auf das sie »Dicky, vermutlich Richard Edwards« gekritzelt hatte. Sie wusste, dass das nach Grans Meinung zu nichts führen würde. Jude dachte, offen gestanden, das Gleiche. Falls Dicky überhaupt noch lebte, war nicht damit zu rechnen, dass er sie unterstützen würde. Sie musste ihre Großmutter noch so vieles fragen! Zum Beispiel, wann Tamsin die
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