Die Karte Des Himmels
zurück auf die Gabel und ließ sich in den Sessel sinken. In einer Flut schmerzhafter Bilder kehrte alles wieder zurück. Und der Schleier zwischen Vergangenheit und Gegenwart war zu dünn, um die Bilder abwehren zu können.
Jessie war vierzehn Jahre alt gewesen, als Tamsin 1937 nach monatelanger Abwesenheit wieder in die Schule kam. An einem dunstigen Morgen im Februar erschien sie unangekündigt auf dem Spielplatz und stand schüchtern ganz für sich allein auf der Seite. Sie hatte sich verändert, war sehr gewachsen, dabei anmutig wie ein Reh, und die braunen Augen schimmerten groß in ihrem fein geformten Gesicht. Jessie, immer noch schmal und flachbrüstig, beneidete sie um ihre betonten Brüste, um die zarten Hand- und Fußgelenke. Tamsin wurde erwachsen. Jessies Schulkameradinnen, die sich größtenteils in schlaksige Jugendliche mit fettiger Haut verwandelten, bemerkten es auch und behandelten sie mit dem Respekt, die Kinder oft für Schönheit übrig haben. Dicky, der schon breitschultrig war und mit der Stimme eines Mannes sprach, starrte mehr als alle anderen, und aus seinem Blick sprach eine besorgniserregende Mischung aus Missfallen und Verlangen.
Diesmal war Jessie selbstbewusst genug, um Tamsin am Ende des Tages zu erlauben, mit ihr zusammen heimzugehen. Die zwei trödelten hinter Jessies Bruder und Schwester die Straße hinunter.
»Sag Ma, dass ich bei einer Freundin bin«, rief sie Sarah nach, warf ihrer Schwester den Ranzen über das Gartentor zu und stieg dann mit Tamsin den Hügel hinauf zum Zigeunerlager. Die beiden Mädchen wussten nicht, dass sie verfolgt wurden.
Tamsins Familie empfing sie herzlich. Nadya, die Urgroßmutter und die vier Männer, einer von ihnen mit der schwangeren Kezia im Schlepptau. Nadya kniff Jessie liebevoll in die Wangen und versorgte die Kinder mit Tee und Keksen. Anschließend streichelten sie die angebundenen Pferde, ärgerten einen jungen Fuchs, den Tamsins jüngster Onkel gefangen und an einen Baum gebunden hatte, von wo aus das Tier hungrige Attacken auf dürre Hühner startete und, soweit es die Reichweite seines Seils zuließ, in der Erde nach Insekten scharrte.
»Was haben sie mit ihm vor?«, fragte sie Tamsin, die nur mit den Schultern zuckte. »Keine Ahnung. Er sagt, er hätte ihn beim Wildern erwischt. Jacko«, rief sie einem jungen Mann zu, der ein Stück Holz schnitzte, »du musst ihn freilassen. Oder er wird die Füchsin anlocken. Und die wird dann bestimmt das Hühnchen töten, so viel ist sicher«, rief sie, aber Jacko trat nur nach dem erstbesten Huhn in seiner Nähe und ließ ein sorgloses Lachen hören.
Als die Abenddämmerung hereinbrach, setzten sich alle rund um das Feuer und teilten sich ein köstliches dunkles Schmorgericht, das Nadya aus einem großen Kübel schöpfte und das mit einer Art Fladenbrot gegessen wurde. Die Männer sprachen über wer weiß was alles in ihrer kehligen Sprache, lachten und schauten grimmig drein, und Nadya sang leise vor sich hin. Niemand fragte Jessie nach ihrem Leben, danach, was sie so trieb, und das machte ihr gar nichts aus. Sie saß nah neben Tamsin, und im Schein des Feuers schauten sie in ihr Englisch-Übungsheft, wisperten sich ein paar Worte zu oder lauschten den Männern, deren Fremdheit Jessie in den Bann schlug. Sie fühlte sich als Teil des Ganzen und doch wieder nicht und versuchte die Stimme der Vernunft in ihrem Innern zu ignorieren, die ihr riet, nach Hause zu gehen.
Die Nacht brach schnell herein. Das Fuchsjunge fing an, nach seiner Mutter zu jaulen, ein herzzerreißendes Geräusch, das nicht enden wollte. Aber die Männer schrien das Tier nur an oder beschwichtigten es. Der Älteste unter ihnen holte eine Fiedel und versuchte, den Lärm nachzuahmen. Der junge Fuchs heulte immer noch, sodass der Fiedler schulterzuckend aufgab und eine Tanzmelodie anstimmte, erst zögerlich, dann schneller und rhythmischer, bis die Zehen zu wippen anfingen und Hände klatschten und Nadya aufstand und tanzte. Noch nie hatte Jessie einen Tanz gesehen, der so ausdrucksvoll war, so wild und so sorglos. Sie klatschte rhythmisch, sah, wie der goldene Schmuck im Feuerschein aufblitzte, die aufstiebenden Funken und dachte, dass sie gerade die außergewöhnlichste Erfahrung ihres gesamten bisherigen Lebens machte.
Plötzlich und wie aus dem Nichts ertönte ein lauter Knall.
Der junge Fuchs jaulte ein letztes Mal, rollte sich zur Seite und blieb reglos liegen. Die Pferde begannen zu steigen und schrien vor
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