Die Karte Des Himmels
beängstigend, nur dumm, und anstatt im Bett zu sitzen, wollte Summer mit ihrem Puppenhaus spielen, während ihre Tante ihr die Geschichte vorlas.
Jude schloss das Buch und schaute ihrer Nichte zu, die alles wegpackte.
»Ich habe mir die Jude-Puppe noch gar nicht richtig angeschaut«, sagte sie, »darf ich mal?«
»Hier ist sie. Euan hat gesagt, dass er sie so schick gemacht hat, wie du bist, wenn du zur Arbeit gehst.«
Die Puppe trug Kleidung, die aussah wie ein schwarzer Rock, ein Jackett und eine weiße Bluse darunter. Jude lachte. »Sieh nur!« Sie zeigte auf die Punkte aus goldfarbener Tinte. »Sie hat sogar meine Ohrringe an.« So sah sie also in Euans Augen aus. Die großstädtische Karrierefrau. Teils fühlte sie sich geschmeichelt, teils empfand sie aber auch, dass sich ein Graben zwischen ihr und der Puppe auftat, und hoffte inständig, dass sie nicht so süßlich die Lippen verzog, wenn sie lächelte.
»Wie ging noch mal die Geschichte, die du neulich Abend gespielt hast?«, fragte sie Summer. »Die mit dem Fuchs und der Katze. Als Emily hier war.«
»Oh, die war ziemlich traurig, fandst du nicht? Aber das andere Mädchen hatte recht, sie hat eine andere Katze bekommen, eine getigerte, die Moony hieß und nie in der Gegend herumgestreunt ist wie Thomas.«
Ein getigertes Kätzchen. Moony – Luna . Sogar den Namen hatte sie beinahe richtig erfasst.
»Wie bist du auf die Geschichte gekommen, Summer?« Beinahe hätte Jude hinzugefügt: »Aus einem Buch?«, bemerkte aber rechtzeitig, dass sie ihrer Nichte damit eine Antwort in den Mund legte.
»Das hab ich dir doch schon erklärt«, sagte Summer und gab sich auf eine so vernichtende Art überdrüssig, wie sie nur ein knapp siebenjähriges Mädchen an den Tag legen konnte. »Als ich aufgewacht bin, hatte ich sie im Kopf. Das ist manchmal so. Emily sagt, dass ich lüge, aber sie ist nur neidisch, weil Mrs. Hatch meine selbst geschriebenen Geschichten an der Tafel ausgehängt und gesagt hat, dass alle sie lesen sollen.«
»Wie schön für dich!«, sagte Jude und lächelte. »Hast du manchmal noch andere Geschichten im Kopf, wenn du aufwachst?«
»Oh ja, ziemlich viele. Da ist dieses Zigeunermädchen, weißt du. Manchmal wohnt es mit seiner Familie im Wald neben dem Turm. Aber dann laden sie alles auf ihre Wagen und fahren weit weg zu einem anderen Platz. Aber den Platz am Turm mag sie am liebsten, weil sie da eine Freundin hat. Und die heißt Esther. Schöner Name, findest du nicht auch? Wenn Mummy mir zum Geburtstag eine Puppe schenkt, soll sie auch Esther heißen.«
»Und wie heißt das Zigeunermädchen?«
Summer zog eine Schnute, während sie nachdachte. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte sie. »Warte mal ... nein, weiß ich nicht mehr.«
»Und warum wachst du mit all diesen Geschichten in deinem Kopf auf, Summer?«
Summer zuckte mit den Schultern. Jude fragte sich, ob Summer gleich damit herausplatzen würde, dass sie selbst das Zigeunermädchen oder Esther sei oder dass eine von beiden ihr die Geschichten erzählt oder dass sie sie geträumt hatte. Aber stattdessen sagte sie nur: »Ich glaube, das Zigeunermädchen heißt Rowan.«
»Okay, das ist ein schöner Name«, meinte Jude, »und es ist auch der Name eines Baumes. Vogelbeerbaum oder Eberesche. Manche Leute sagen, der Baum wäre verzaubert.«
Summers Miene hellte sich auf. »Das ist gut, weil sie ein rotes Kopftuch hat.«
Das verschlug Jude schier die Sprache. In Esthers Bericht tauchte das Kopftuch des Zigeunermädchens ebenfalls auf, und es war mohnrot. Die Wahl der Farbe mochte naheliegend sein, aber es war auch eher Summers völlige Gewissheit, die Jude durcheinanderbrachte, und natürlich die Tatsache, dass sich so viele Zufälle anhäuften.
Sie versuchte es auf einem anderen Weg.
»Summer, bist du jemals beim Starbrough Folly gewesen?« Jude wusste, dass es so war, aber sie wollte ihr auch diesmal keine Antwort in den Mund legen.
Summer nickte. »Euan hat mich mitgenommen. Ich wollte nicht hochsteigen, weil es mir dort nicht gefallen hat. Es war gruselig.«
»Gruselig?«
»Mmhm, ich musste an was denken, was mir Angst macht. Ich weiß nicht, an was, aber ich mochte es nicht.« Ihre Stimme quiekste plötzlich.
»Mein armes Schätzchen!« Summer lehnte sich an Jude, und diese legte beschämt die Arme um das Kind. Es wäre falsch, noch länger über diese Dinge zu sprechen. Was konnte es nur sein, das dem kleinen Mädchen solche Angst eingejagt hatte – und das sowohl
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