Die Karte Des Himmels
genau das gefiel ihr an dem Buch von ihm, das sie gelesen hatte. Die Leidenschaft des Autors flutete förmlich über die Seiten.
»Danke. Oh, ein Hirschkäfer! Gut, dass ich ihn entdeckt habe.« Er zog ein Notizbuch aus dem Rucksack und kritzelte mit dem Bleistiftstummel etwas hinein. »Damit ich einen Überblick über die Gegend bekomme«, erklärte er. »Weißt du, ich habe erst, als ich die Schule hinter mir hatte, ernsthaft angefangen, zu lesen und zu schreiben und nachzudenken. Für mich selbst. Es war wie eine Entdeckungsreise für mich, ganz anders, als Dinge zu tun, die mir jemand aufgetragen hatte. Unterwegs habe ich ein paar Fehler gemacht, aber ich habe mir meinen eigenen Platz in der Welt gesucht. Es mag nicht jedermanns Sache sein, aber für mich ist es genau richtig.«
»Du lebst nicht nach bestimmten Mustern?«, fragte Jude. »Du hast gesagt, dass du manchmal die halbe Nacht auf den Beinen bist.«
»Ja, wegen der Sterne, der Nachtfalter und der Fledermäuse. Man hat mir gesagt, es sei schrecklich, mit mir zusammenzuleben«, sagte er, »nicht zuletzt Carla, meine Exfrau. Wir haben sehr jung geheiratet, und dann ... wir haben irgendwann festgestellt, dass unsere Erwartungen an das Leben unterschiedlich waren.« Er lächelte, aber es lag eine Wehmut in seinem Lächeln, die Jude aufmerken ließ. »Wenn man allein lebt, ist es schwer, einen routinierten Arbeitsalltag zu entwickeln. Ich wache zu den seltsamsten Uhrzeiten auf und schreibe, wenn mir danach ist. Dann ruft vielleicht jemand an und lädt mich zu irgendetwas ein, was sehr interessant klingt. Das heißt, dass ich dann ein paar Tage fort bin und kurzfristig jemanden finden muss, der die Tiere füttert ... Ach übrigens, gestern habe ich das Kaninchen freigelassen, in der Nähe von der Stelle, wo ich es gefunden hatte.«
»Wie hat es sich gemacht?«
»Es ist zu seinen Geschwistern gehumpelt und hat angefangen, Gras zu fressen. Ohne zu zögern. Wie dem auch sei, es ist schon erstaunlich, dass ich diese Bücher überhaupt geschrieben bekomme. Aber sie müssen sein, sonst würden die Rechnungen nicht bezahlt.«
»Musst du auch öffentlich auftreten und Lesungen halten und so?«, fragte Jude.
»Oh, ja, jede Menge«, sagte er, »und für Zeitungen schreiben. Besonders wenn ein neues Buch erschienen ist. Sollen wir uns langsam auf den Rückweg machen?«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher, und es war, als setzte der Gedanke, in die Zivilisation zurückzukehren, den Strudel der Besorgnis in Judes Kopf wieder in Bewegung. Euan blieb ab und zu stehen, um ein Insekt auf einem Stück Baumrinde zu beobachten oder dem Schrei eines Vogels zu lauschen. Als sie merkte, dass er sie anschaute, wandte sich Jude ihm mit einem Lächeln zu. »Was ist? Ich bin kein Teil der wilden Natur!«
»Natürlich nicht«, sagte er und wirkte peinlich berührt. »Du siehst nur manchmal so traurig aus.« Sein Ton hatte unbeschwert geklungen, aber sein Gesichtsausdruck, normalerweise ruhig und zuversichtlich, wirkte plötzlich verletzlich, so als ob sie etwas in ihm angerührt hätte.
»Ist das so?«, sagte sie. »Das tut mir leid. Im Moment gibt es aber auch vieles, was mich traurig stimmt oder mir Sorgen macht.«
»Ich hab mich nur gefragt ... entschuldige. Claire hat mir erzählt, dass du deinen Mann verloren hast. Es muss ungeheuer schwer sein, sich von diesem Schlag zu erholen.«
Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie bisher noch nicht ausführlicher darüber gesprochen hatten.
»Das stimmt. Es ist immer noch schwer«, sagte sie. »Es gibt so viele Menschen, freundliche Menschen, die mich gernhaben und mir sagen, dass ich es hinter mir lassen und mein Leben weiterleben soll. Aber ... ich kann nicht ...« Ihre Worte verloren sich. »Es ist, als ob ... ich weiß nicht, ich finde einfach nicht den Mut.« Sie lachte, aber es klang nicht besonders überzeugend. »Vielleicht, eines Ta g e s.«
Er nickte, und Jude war froh, dass er ihr nicht mit irgendwelchen abgedroschenen Klischees kam wie »Die Zeit heilt alle Wunden«.
»Obwohl ich vorhin nicht an Mark gedacht habe, sondern an Summer. Ich habe darüber nachgedacht, was ich bloß tun kann.«
»Oh, Jude, ich habe mir auch schon den Kopf über sie zerbrochen. Claire hat mir alles erzählt. Ich wünschte, ich hätte sie nie zum Turm mitgenommen. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass mit dem Turm irgendwas nicht stimmt. Wie hätte ich darauf kommen sollen?«
»Ich denke nicht, dass du dir irgendwelche
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