Die Karte Des Himmels
fragte Chantal: »Wie geht es der Kleinen? Sie sagten, dass sie unter Albträumen leidet.«
»Ich fürchte, daran hat sich nichts geändert«, gab Jude zurück und erzählte von dem seltsamen Zufall, dass Summer Einzelheiten aus Esthers Geschichte kannte.
»Das ist wirklich merkwürdig. Sie müssen ihr davon erzählt haben. Bestimmt gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung. Besonders, weil Sie sagen, dass sich das Kind nach Ansicht des Arztes ganz normal benimmt. Kinder in diesem Alter haben nachts häufig Angst. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, als Robert jede Nacht nach mir gerufen hat und ich mich zu ihm ans Bett gesetzt habe. William wollte nicht, dass er mit uns in einem Bett schlief. Morgens war ich dann immer sehr müde und Robert frisch und ausgeschlafen.«
»Vielleicht ist es wirklich nur das. Nachtangst«, sagte Jude. Aber zum einen wusste sie, dass sie Summer nicht alles über Esther erzählt hatte, und zum anderen sprach die Art der Träume durchaus eine andere Sprache. »Aber warum hat es dann angefangen, nachdem Euan ihr den Starbrough Folly gezeigt hat?«
Chantal zuckte mit den Schultern. »Zufall«, sagte sie. »Oder vielleicht hat der Ort irgendwas an sich, was ihre Einbildungskraft angeregt hat. Dort ist so viel geschehen. Ich glaube, dass solche Dinge eine gewisse Atmosphäre schaffen können.« Dann fügte sie hinzu: »Dieser junge Mann, den Sie erwähnten, dieser Euan ... bitte verzeihen Sie meine Frage, aber sind Sie im Begriff, sich mit ihm anzufreunden?«
Jude legte ihr Besteck ab und suchte nach Worten.
»Oh nein, was bin ich doch aufdringlich«, rief Chantal und wischte ihre Frage mit einer Handbewegung fort. »Er ist sehr charmant . Ich dachte nur ... ich bitte um Entschuldigung.«
»Das müssen Sie nicht«, sagte Jude und nippte an ihrem Wein. »Er ist wunderbar. Aber ich glaube, er ist schon vergeben. Meine Schwester war zuerst zur Stelle. Und ich kann mich da nicht einmischen.«
»Mag er Ihre Schwester?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Jude. »Danach kann man ja auch kaum fragen. Meiner Einschätzung nach befinden sie sich gerade in einer heiklen Phase. Sie verstehen, in der Phase, bevor irgendetwas anfangen kann. Und da kann ich nicht einfach losmarschieren und ...«
»Ah, Sie mögen ihn also.« Chantals Augen funkelten.
»Ich finde ihn ... sehr attraktiv. Ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen, wie man so sagt.«
Chantal gab ein lautes, entzücktes Lachen von sich. Mehrere Gäste drehten sich um und starrten sie an. Wie elegant und lebhaft sie heute ist, dachte Jude.
»Sie sehen, was das Problem ist«, fuhr Jude fort. »Was soll ich tun? Was würden Sie tun? Von Frau zu Frau, Chantal! Ist Ihnen so was auch schon mal passiert?«
»Ich habe keine Schwester, also bin ich nie in eine solche Lage geraten. Aber die Beziehungen zu Ihrer Familie sind schon wichtig. Ja, Sie haben recht, Sie können nicht einfach losmarschieren und ... Sie müssen warten, meine Liebe. Abwarten, was geschieht. Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, woanders hinzugehen und ihn zu vergessen. Das wäre die ehrenwerteste Lösung.«
»Wirklich?«, sagte Jude leise und spürte, wie ihre Energie sich auflöste. Sollte sie einfach nach London zurückfahren und Claire und Euan sich selbst überlassen? Das war eine Möglichkeit. Aber es gab noch eine andere: In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. Mal angenommen, es würde ihr gelingen, mit Euan zusammenzukommen, was würde das für die Beziehung zu ihrer Schwester und zu Summer bedeuten?
Beim Essen sprach Chantal darüber, wie streng sie in Paris erzogen worden war und wie sehr sich die Erziehung der Zwillinge von ihrer unterschied. Judes Gedanken kreisten die ganze Zeit um Euan und Claire.
Sie hatte keine Lust, sich »ehrenwert« zu benehmen und zu verschwinden. Aber sie wollte auch nicht, dass zwischen Claire und ihr ein offener Krieg ausbrach. Es war schwer. Sie hatte ohnehin schon das Gefühl, dass sie Claire wie ein rohes Ei behandeln musste, ständig auf der Hut, sie nicht zu verletzen. Und sie war sich immer bewusst, dass die hübsche, lebhafte, attraktive Claire sehr verletzlich war. Aber Claire würde mir kein Opfer bringen, dachte Jude, oder vielleicht doch? Wieder keimte die alte Verbitterung über ihre Schwester auf. Dann gab es noch eine Schlüsselfrage: Euan war kein Spielzeug, um das sie sich zanken konnten. Er hatte seine eigenen Gefühle und seine eigene Meinung. Die wichtigste Frage in der ganzen Geschichte war
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