Die Karte Des Himmels
und dem Farnkraut. Stunden schienen vergangen zu sein, als ich endlich den Turm erreichte, die Tür aufschloss und meine Laterne anzündete, obwohl gewiss nicht mehr als eine halbe verflossen war. Dann galt es, alles nach oben in den Turm zu transportieren. Zweimal musste ich die Treppe hinaufsteigen, dann die gefährliche Leiter hinaufklettern und die Lukentür aufstoßen, um auf die Plattform zu gelangen. All das brachte ich fertig, ohne auszurutschen oder irgendetwas fallen zu lassen. Nachdem das erledigt war, stieg ich ein letztes Mal die Treppe hinunter, um die restlichen Dinge zu holen.
Als ich gerade wieder die Stufen hinaufstieg, hörte ich unten ein rumpelndes Geräusch und hielt aufgeschreckt inne. Bevor ich mich entschließen konnte, hinunterzurennen oder mich nach oben zu flüchten, hörte ich, wie die Tür zuschlug und der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Ich war eingeschlossen. Drohte die Gefahr von drinnen oder draußen? Metall, das auf Metall knirschte, verriet mir, dass jemand den Riegel von außen vorgeschoben hatte. Draußen also. Ich rannte die Treppe hinunter und stolperte unvermittelt über den Karren. Zerschrammt und zitternd raffte ich mich wieder auf. Ich hieb mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür und schrie. Dann wartete ich. Und schrie aufs Neue. Und wartete. Aber da war nichts und niemand.
Damit war das Ende von Esthers Bericht erreicht. Es war unglaublich frustrierend. Nur ein einziges weiteres Blatt Papier hatte es gegeben, zerknüllt und tränenverschmiert. Auf diesem Blatt hatte Esther in einer unordentlich krakeligen Handschrift, die ihr gar nicht ähnlich war, drei knappe Sätze notiert. In der Bibliothek hatte Jude die Sätze mehrmals gelesen, und als sie im Zelt in der Dunkelheit lag, versuchte sie, sich zu erinnern. Ja, so hatte es geheißen:
Hier bin ich jetzt seit drei Tagen ohne Wasser und Nahrung und Feuer. Niemand kommt. Ich fürchte, ich muss allein hier sterben.
Es war, als könne Jude Esthers Stimme in ihrem Kopf hören.
Und als sie in dem warmen Zelt in den Schlaf glitt, geschah das Gleiche wie damals, als sie im Bericht den Abschnitt über das Entstehen der Bibliothek gelesen hatte. Es war, als wäre sie mit Esther dort und würde erfahren, was als Nächstes passiert war ... wie in einem Traum ...
In der ersten Nacht sagte Esther sich, dass am kommenden Morgen alles in Ordnung kommen würde. Wer auch immer sie gefangen genommen hatte, er würde zurückkehren und sich ihr erklären und sie herauslassen. Vielleicht handelte es sich nur um einen dummen Streich oder um einen Unfall, oder man wollte ihr Angst einjagen. Sie fragte sich, wer ihr bis zum Turm gefolgt sein konnte. Möglicherweise der Jagdhüter, der überzeugt war, wegen des Todes seines Masters könne es sich bei dem Besucher nur um einen Eindringling handeln. Aber höchstwahrscheinlich hatte es doch mit Alicia zu tun. Wieder und wieder dachte Esther darüber nach. Man würde sich nach ihr auf die Suche machen. Ja, Susan würde nach ihr suchen. Genauso wie Sam und Matt. Irgendjemand musste doch kommen!
Um sich zu ermutigen, zwang Esther sich schließlich, mit ihrem Vorhaben fortzufahren. Mit einiger Mühe schwang sie den Baldachin auf dem Dach zurück, brachte die Spiegel am Teleskop an und suchte den Himmel nach dem merkwürdigen Objekt ab, welches sie entdeckt hatte. Aber in dieser Nacht war nichts zu sehen. Es ist zu spät im Jahr, entschied sie. Ein Dreiviertelmond zog auf und ließ die Sterne blasser erscheinen, und als die Nacht vorrückte, verschwanden sie allesamt hinter einem dichten Wolkenvorhang. Langsam und sehr sanft begann es zu schneien. Esther streifte sich die Handschuhe ab, fing die Flocken mit den Handflächen auf und leckte sie durstig ab. Dann kletterte sie die Leiter hinunter, schloss die Luke und rollte sich auf der schmalen Matratze, die ihr Vater dort liegen gehabt hatte, zusammen. Die Matratze war feucht, aber Esther bedeckte sie mit einem Stückchen Ölpapier und hüllte sich in ihren Umhang. Sie schlief unruhig.
Der Morgen war trostlos und kalt. Die Luft roch nach Metall. Esther kletterte auf die Plattform des Turmes, doch alles, was sie sehen konnte, war ein dichter Nebel. Wieder und wieder rief sie um Hilfe, aber ihre Stimme klang schwach und gedämpft, und als sie lauschte, war keine Antwort zu hören. Halb kroch sie bis nach unten und versuchte wieder, die Tür zu öffnen. Sie war immer noch abgeschlossen, und Esthers Tritte und Stöße prallten ab an ihrer
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