Die Karte Des Himmels
schläfrig. Jude hoffte, dass sie in der Nacht von schlechten Träumen verschont bliebe.
Als Jude das Cottage betrat, spürte sie sofort, dass irgendetwas geschehen war. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Euan und Claire schauten nur kurz auf und machten einen bedrückten Eindruck.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Jude.
»Nein, uns geht’s gut«, sagte Claire hastig und schaute weg. Es war verwirrend. Jude konnte nicht entscheiden, ob ihre Anwesenheit erwünscht war oder nicht.
»Trink noch einen Schluck Wein.« Euans Angebot klang fast wie ein Befehl. Also hockte sie sich in die Ecke seines neuen Sofas und machte Small Talk.
Als die Stimmung sich nicht bessern wollte, stellte sie das halb volle Weinglas auf den Tisch und stand auf. »Habt ihr was dagegen, wenn ich ins Bad gehe? Ich leg mich dann schlafen.«
»Ich auch«, sagte Claire.
Zehn Minuten später schlichen Claire und sie zusammen hinaus auf die Wiese. Claire lugte in den Wohnwagen und verzog sich dann wortlos ins Zelt. Auch Jude schaute noch einmal nach den Mädchen, die beide friedlich zu schlafen schienen.
Jude zog rasch Pyjama und Bettsocken an und schlüpfte in den Schlafsack. Sie wartete, bis ihre Schwester sich auch hingelegt hatte. »Gute Nacht«, rief sie leise, und Claire murmelte eine Antwort. Jude hatte es überraschend warm und gemütlich. Sie lag da und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Bei dem Gedanken an Euan und Claire war ihr weniger behaglich zumute, obwohl sie aus der Sache nicht recht schlau wurde. Sie überlegte hin und her, bis sie das Problem schließlich aus ihren Gedanken verbannte und sich auf den letzten Teil von Esthers Erinnerungen konzentrierte. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, jemandem davon zu erzählen. Eigentlich hatte sie das, was sie gelesen hatte, auch selbst noch nicht verarbeitet. Es war überraschend – und absolut schrecklich.
30. Kapitel
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, kleidete mich ganz in Schwarz und nahm allein mein Frühstück ein, als ein Brief eintraf. An der vertrauten Handschrift erkannte ich, dass er von Mr. Bellingham stammte. Ich kehrte in das Esszimmer zurück und öffnete gespannt das Schreiben. Die Nachricht, die es enthielt, versetzte mich in solche Verwirrung, dass ich mich hinsetzen musste. Es war genau das, was mein Vater sich erhofft hatte. Bellingham war an dem merkwürdigen Kometen, den wir entdeckt hatten, so sehr interessiert, dass er die Astronomische Gesellschaft darüber informiert hatte und uns deshalb ein paar Tage besuchen wollte. Unsere Entdeckung sollte anerkannt werden! Aber wie schrecklich, dass für meinen Vater alles zu spät kam! Ich las den Brief noch einmal und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Schließlich fasste ich einen Entschluss. Ich würde unsere Forschungen nicht aufgeben. Ich würde in die Fußstapfen meines Vaters treten und unsere Entdeckung mit Selbstbewusstsein präsentieren, auch wenn ich nur ein Mädchen war. Und die Pilkingtons würde ich nicht über Mr. Bellinghams Besuch unterrichten. Noch nicht. Mit ein wenig Glück würde mein Erbe doch anerkannt, und die Pilkingtons hätten zur Zeit seiner Ankunft bereits enttäuscht die Heimreise angetreten.
Eilig versteckte ich den Brief in der Schublade des Konsolentisches, als ich Schritte in der Halle hörte. Keinen Augenblick zu früh, denn Augustus trat ein. Er hielt inne, ließ die Hand auf dem Türknauf liegen und war peinlich berührt, mich allein vorzufinden.
»Ist meine Mutter noch nicht heruntergekommen?«, erkundigte er sich unbeholfen.
»Ich habe sie nicht gesehen«, erwiderte ich. Plötzlich empfand ich Mitleid mit ihm, mit diesem großen, dürren Gespenst von einem Jungen, welcher ganz und gar im Strudel des Ehrgeizes seiner Mutter gefangen war. Er hatte meinen Vater bewundert. War er überhaupt jemals gefragt worden, ob er selbst sich zu der Angelegenheit äußern wollte? Ich denke nicht.
Der Tag verlief wie unter einem Schleier der Trauer. Während der Bestattungsfeier selbst und als der Sarg in die kalte Erde gesenkt wurde, standen wir alle zitternd da, bevor wir uns zivilisiert und gesellig gaben und zu einem kalten Leichenschmaus im Esszimmer zusammenfanden. Es war überraschend, wie viele Verwandte mein Vater immer noch hatte – zumeist ältere Cousins oder einige ungepflegte Überbleibsel wie aus der Mottenkiste, die entweder aus Neugier oder einem Rest von Familiengefühl gekommen waren oder weil sie sich über das kostenlose Dinner
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