Die Karte Des Himmels
wir jetzt die Antwort auf meine Frage von vorhin«, sagte Jude ruhig. »Ich habe Sie gefragt, ob Anthony einen Sohn hatte, und Sie hatten recht, er hatte keinen. Aber er hatte eine Tochter, eine Adoptivtochter. Ihr Name war Esther, und sie hat den Bau des Turmes beschrieben.«
Chantal dachte darüber nach. »Esther. Ich habe noch nie etwas von ihr gehört. Vielleicht sind adoptierte Kinder damals noch nicht in das Verzeichnis der Familie aufgenommen worden. Steht da etwas darüber, woher sie stammte?«
Jude suchte die Stelle im Tagebuch. »› ... dass ich eine Waise sei ... oder der Bastard des Masters ...‹ Das klingt wirklich ein bisschen geheimnisvoll. Das arme Mädchen, sie wusste es selbst nicht genau. Und sie hat gern Prinzessin gespielt, heißt es später. Es hat sie also eindeutig beschäftigt.«
Am frühen Nachmittag schickte Jude eine Mail an Cecelia, in der sie ihr den neuen Fund beschrieb und versprach, ihr das zerrissene Journal am Montag zuzusenden. Sie beschrieb die ramponierten Seiten, die ihrer Meinung nach absichtlich herausgerissen worden waren.
Ich muss die Papiere zuerst selbst lesen – sie sind fantastisch für den Artikel, den ich schreiben muss –, und ich lasse Dich wissen, was drinsteht. Es scheint vernünftig, dass ich sie transkribiere, solange ich hier bin, damit jeder sie lesen kann, der sich dafür interessiert. In der Zwischenzeit müssen wir nicht nur alles über Anthony herausfinden, sondern auch über Esther Wickham.
Dann fuhr sie den Laptop herunter. Sie war ein bisschen müde und hatte leichte Kopfschmerzen. Mit einem dumpfen, vorwarnenden Schmerz im Bauch lag sie eine Weile auf dem Bett und dachte über Esthers Manuskript nach. Es war eine brillante Idee, die Seiten zu transkribieren. Vielleicht konnte sie jeden Tag ein paar Abschnitte daraus in ihren Laptop tippen. Aber nicht an diesem Nachmittag. Sie sollte sich später bei Claire einfinden. Im Moment fand sie es verlockend, einfach nur auf dem Bett zu liegen, nahm ein paar Schmerztabletten und schlief kurz darauf ein.
Als sie eine halbe Stunde später wieder aufwachte, fühlte sie sich besser und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Das Gelände rund um Starbrough Hall hatte sie noch gar nicht richtig in Augenschein genommen.
Chantal war nirgends zu sehen. Alexia, die aufräumte, solange die Kinder ein Schläfchen hielten, schlug ihr vor, sich die Gärten hinter dem Haus anzusehen. »Allerdings gibt’s da nicht viel zu entdecken, fürchte ich«, sagte sie. »Aber Sie können sich die Stallungen und die Gewächshäuser anschauen und sich vorstellen, wie es früher war. Außerdem gibt es dort noch Roberts kostbares Gemüsebeet. Das dürfen Sie nicht verpassen, er ist sehr stolz darauf.«
Jude erkundete den Blumengarten und bewunderte pflichtbewusst die Gemüsereihen im Küchengarten. Dann ging sie quer durch den Park, machte einen kleinen Sprung in den alten Begrenzungsgraben und ging über unebenes Grasland auf den Wald zu. Als sie näher kam, entdeckte sie ein eisernes Gittertor in der Mauer aus Feuerstein, die den Park vom Waldgebiet trennte. Wie sie befürchtet hatte, war es mit einem Vorhängeschloss gesichert. Sie umfasste die Gitterstäbe wie eine Gefangene und starrte auf einen verlockenden Pfad, der zwischen den Bäumen verschwand. Vermutlich führte er zum Turm. Sie wandte sich um und ging zur Straße hinunter. Bevor sie zum Haus zurückkehrte, wollte sie einen kurzen Rundgang um das Gelände von Starbrough Hall machen.
Als Jude die Straße erreicht hatte, genoss sie es, eine Weile auf einer niedrigen Mauer unter dem sanft raschelnden Laub der Bäume zu sitzen, es war so ein perfekter schläfrig machender Nachmittag. Auf der anderen Seite der Mauer grasten Kühe auf der Wiese. Eine leichte Brise strich ihr über die Haut.
Eine Viertelmeile die Straße hinauf konnte sie Euans Wagen erkennen, und genau in diesem Moment kam er aus der Auffahrt und holte irgendetwas aus dem Kofferraum, was nach einer Holzleiste aussah, bevor er wieder im Haus verschwand.
Jude fragte sich, ob er gerade nach Hause gekommen war oder wegfahren wollte. Nach Hause gekommen, beschloss sie, nachdem ein paar Minuten lang überhaupt nichts geschehen war. Sie glitt von der Mauer herunter und spazierte die Straße hinauf.
14. Kapitel
Euan hockte vor einem geöffneten Kaninchenstall in dem alten Carport. Als er aufstand, sah Jude, dass er ein Kaninchen im Arm hielt. »Jude, wie schön, Sie zu sehen! Ich wusste nicht, dass Sie
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