Die Kastratin
denn je sehnte sie sich nach Vincenzo. Nicht dass er ihr in dieser Situation hätte helfen können, denn er war ja ebenfalls an Falkensteins Arroganz und Bosheit gescheitert, aber allein seine Gegenwart hätte ihr Trost gespendet. So aber sah sie sich einer erbarmungslosen Front von Augen gegenüber, die sie wie ein ekelhaftes Insekt musterten. In ihrer Verzweiflung drehte sie sich um und rannte blindlings davon. Im Korridor übersah sie einen Mann, der ihr entgegenkam, prallte gegen ihn und stürzte vom eigenen Schwung getragen zu Boden.
Beschämt versuchte sie, sich auf die Beine zu kämpfen. »Verzeiht mir, Herr.«
Er reichte ihr lachend die Hand. »Steht erst einmal auf, bevor Ihr Euch entschuldigt. Ich glaube, Ihr habt mehr Schaden davongetragen als ich.« Er zeigte auf Giulias rechtes Knie, an dem Blut durch den zerrissenen Stoff rann. Jetzt erst spürte Giulia den Schmerz und verzog das Gesicht. »Trotzdem war es meine Schuld. Ich hätte darauf achten müssen, wohin ich laufe.«
Das Lachen des Mannes verstärkte sich. »Da seid Ihr nicht der Einzige.« Giulia sah ihn jetzt genauer an. Er war prachtvoll, wenn auch sehr altmodisch in Gelb und Schwarz gekleidet. Das unter seinem Barett hervorquellende Blondhaar war bereits leicht ergraut. Auch in seinem rötlichen Bart glitzerte es wie Schnee, und das Gesicht wies die ersten, scharfen Falten des Alters auf. Auf seiner Brust trug er ein schweres Medaillon, das von einer massiven Goldkette gehalten wurde. Jetzt erinnerte sich Giulia an ihn. Seinen Namen kannte sie nicht, wusste aber, dass er einer der deutschen Fürsten war, die derzeit am Wiener Hof zu Gast weilten. Der Kaiser hatte ihn mehrfach dadurch geehrt, indem er ihm bei der Morgenmesse den Platz zu seiner Rechten angewiesen hatte. Jetzt war ihr der Zusammenstoß noch peinlicher. »Ich will Euch nicht länger aufhalten, Durchlaucht.« Sie verbeugte sich und wollte an ihm vorbeigehen. Er aber packte sie mit festem Griff am Arm. »Ihr seid der Kastratensänger, den Piccolomini aus Rom mitgebracht hat.«
Giulia nickte. »Casamonte, zu Euren Diensten, Herr.«
»Ihr habt eine bewundernswerte Stimme. Es ist ein Genuss, Euch zuzuhören.« Der Mann nickte wie bei einer angenehmen Erinnerung und sah Giulia fragend an. »Singt Ihr nur geistliche Lieder oder auch solche zur Erheiterung des Gemüts?«
»Ich singe, was meine Auftraggeber wünschen. In Italien hört man gerne die Lieder, die die Liebe und die Freude preisen.«
Der Edelmann nickte erfreut. »Nicht nur dort. Ich weiß nicht, ob Euch die Choräle bei den Gottesdiensten zu sehr erschöpfen, doch ich würde auch gerne etwas anderes von Euch hören. Was habt Ihr in Eurem Repertoire?«
Sein Interesse schmeichelte Giulia, und sie begann zu hoffen, dass sie auch einmal etwas anderes zu sehen bekäme als ihre kahle Kammer, die prunküberladene Hofkapelle und das düstere Gemach der Kaiserin. »Ich singe Motetten und Chansons verschiedener Komponisten, aber auch eigene Lieder in Italienisch, Latein und Französisch.«
»Auch auf Deutsch?« Als Giulia den Kopf schüttelte, klopfte ihr der Mann auf die Schulter. »Wenn Ihr Euch nicht darauf beschränken wollt, dem Kaiser und seinen Gästen den Kirchgang zu versüßen, solltet Ihr ein paar deutsche Lieder lernen.«
Giulia strahlte ihn an. »Das würde ich sehr gerne tun.«
»Dann kommt heute Nachmittag um drei Uhr zum Palais Koloban in die Sonnenfelsgasse. Ich werde Euer Erscheinen ankündigen, damit Ihr dort willkommen seid.«
Giulia wurde das Tempo, das der Edelmann anschlug, ein wenig unheimlich. »Ihr seid sehr gütig, Herr. Ich werde pünktlich erscheinen. Doch verzeiht mir eine Frage. Es hat mir noch niemand gesagt, wer Ihr seid.«
»Ich bin Christoph, der Herzog von Württemberg. Und nun bis heute Nachmittag.« Mit diesen Worten ließ er Giulia stehen.
Sie starrte ihm verwirrt nach. Dem wenigen nach, was sie von Piccolomini erfahren hatte, sollte Christoph von Württemberg das Oberhaupt der deutschen Ketzer sein. Der päpstliche Gesandte hatte ihn ihr als schreckliches Ungeheuer geschildert, als einen Erzketzer, der die Autorität des Heiligen Vaters leugnete und die Menschen in den deutschen Landen zwang, den Irrlehren Luthers nachzulaufen. Ihr war er wie ein freundlicher, älterer Herr erschienen, der sie weder als Kastrat verachtet hatte noch den Unterschied des Standes hatte fühlen lassen. Dennoch wusste sie nicht, was sie von seiner Einladung halten sollte. Was, wenn es eine Falle war, um
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