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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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angesichts
dieser Ungeheuerlichkeit ihrer Kunst des Gedankenlesens nicht mehr vertrauend.
    Doch Lisettes verstärktes Zittern war Antwort genug. Diese einfache
Frau aus dem Volk, dachte Ingeborg, nicht ohne Bewunderung, schafft es doch
immer wieder, mich zu verblüffen. Nach Blankas Rückkehr wird sie die Königin
niemals wieder vertreten, aber ich sollte sie mir in meinem Palast zu meiner
Erheiterung halten. Ein einfallsreiches Geschöpf, wer hätte das gedacht. Ein
weiterer Blitz aus dem Inneren Lisettes drang in ihr Hirn.
    »Weil es dort keine Königin
gibt!«, wiederholte Königin Ingeborg laut den aufgeschnappten Gedankenfetzen.
Sie schlug die Hände zusammen und begann schallend zu lachen.
    »Setz dich, Magd, auch wenn niemand deine blauen Flecken sehen wird,
wenn dich dein erbärmliches Zittern stürzen lässt.«
    Sie wies mit der Hand zur Bank neben der Tür. Mit unterdrücktem Keuchen ließ sich Lisette darauffallen.
Unter dem indigoblauen Stoff des Kleides hüpften ihre Knie auf und ab;
wie von eigenem Willen bewegt, waren sie selbst durch kräftigen Druck beider
Hände nicht zu bändigen. Das Lachen der alten Königin klang schauerlich hohl in
Lisettes Ohren, in denen ein plötzliches Sausen eingesetzt hatte.
    Fürwahr, kein schlechter Gedanke, überlegte Ingeborg. Der Steinmetz
könnte tatsächlich einer der Figuren die starken schönen Züge Blankas, über den Umweg der Magd Lisette, verleihen.
Ingeborg gefiel die Vorstellung, als Einzige – den Verfertiger und dessen Weib
zählte sie nicht mit – zu wissen, dass sich zwischen die Könige von Juda auf
der Fassadengalerie von Notre-Dame eine Frau eingeschlichen hatte. Die Skizze
dazu solle der Steinmetz in einer Kammer des Cité-Palasts anfertigen, überlegte
sie weiter. Wo er mit seiner Frau allein wäre und ihr auf bekannt männliche
Weise zeigen sollte, wer sie wirklich war und wer ihr Herr – wenn man dieses
Wort auf einen Bildhauer überhaupt anwenden konnte. Bis Blanka zurückkäme,
sollte die elende Kopie täglich über einen gewissen Zeitraum mit ihrem Burschen
eingeschlossen werden. Dem Mann würde sie nicht nur den Auftrag erteilen, das
Bild anzufertigen, sondern auch alle Rechte auszuüben, die er über seine Frau
hatte. Nach solchen vorhersehbaren Demütigungen würde Lisette zweifellos
fügsamer werden.
    Königin Ingeborg gab also entsprechende Anordnungen, ließ den
Steinmetz in den Palast holen und sperrte ihn mit seinem Weib in ein Gemach
ein.
    Anders als die Dänin erwartet hatte, fiel der Bildhauer keinesfalls
augenblicklich über Lisette her. Er griff auch nicht zur bereitgelegten Kohle,
um die Skizze einer Frau zu fertigen, deren Antlitz er unzählige Male in den
Staub gemalt hatte.
    Königin Ingeborg, die einen Augenblick im Gang vor der geschlossenen
Tür verharrte, vernahm nur die ruhige Stimme des Mannes. Offensichtlich sprach
er von seiner Arbeit an der Kathedrale.
    Schulterzuckend schritt die alte Königin fort. Vom Brunftverhalten
niedriger Untertanen verstand sie nichts und wollte sie auch nichts wissen.
Auch der Pfau spreizt erst seine Federn, dachte sie, und dann lässt er der
Natur ihren Lauf.
    Antoine sprach tatsächlich über Notre-Dame. Aber nicht von solch
profaner Arbeit, wie Ingeborg vermutete.
    Lisette, erleichtert, als Folge ihres Übermuts nur ihren Mann
wiedersehen und nicht ihr Leben lassen zu müssen, versuchte nicht zu begreifen,
was Antoine meinte, wenn er von dem Lebensbaum sprach, den die Steinmetze mit
geheimen Zeichen in die Westfassade der Kathedrale geschlagen hatten, von
verschlüsselten Botschaften für Gleichgesinnte und die Nachwelt. Sie war
dankbar, dass er keinerlei Anstalten machte, ihr die edlen Kleider vom Leib zu
reißen, und sie staunte über das Feuer in seinen Augen, das ihn wesentlich
anziehender machte als der müde Blick, den sie von früher kannte.
    »Ich treffe mich mit diesen Menschen«, sagte er flüsternd. »Wo soll
ich denn auch hin, da keiner zu Hause auf mich wartet?«
    »Was für Menschen?«, fragte Lisette höflich und wenig
interessiert.
    »Andere Steinmetze. Juden …«
    »Juden?«
    »Auch. Sie arbeiten mit uns. Und wissen viel. Ich kann nicht
schreiben, Lisette, aber ich kann Zeichen in Stein hauen. Geheime Zeichen.«
    Lisette gähnte.
    »Du hast doch das schöne Rosenfenster gesehen?«, fragte er
eindringlich.
    Lisette nickte.
    »Das ist die Sonne«, fuhr Antoine fort, »das Zentrum des Herzens und
die Stätte des Gleichgewichts …«
    »Des was?«
    »Des Gleichgewichts

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