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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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allein
hinunter. Theobald fiel auf die Knie. Er war bewusstlos und stöhnte leise. Aus
seinem Hals sickerte zwar Blut, aber es schoss nicht heraus wie bei tödlich
Verwundeten. Clara hockte sich neben ihm hin und betrachtete die Schnittwunde.
Sie war nicht tief.
    »Bringt ihn ins nächste Kloster«, rief sie seinen Männern zu, die
reglos den Vorfall beobachtet hatten, unsicher, wie sie sich verhalten sollten.
Sie schuldeten Theobald Treue, aber sie wagten es nicht, die Königin
Frankreichs, die ihr Herr sein Leben lang angebetet und besungen hatte,
anzugreifen, und rührten sich erst wieder, als Clara ihr Pferd bestieg und mit
den beiden alten Männern der Königin hinterhereilte.
    »Ist er tot?«, fragte Blanka, als Clara sie eingeholt hatte.
    »Nein«, erwiderte Clara, »diese Schuld hast du nicht auf dein
Gewissen geladen. Aber wie soll es jetzt weitergehen? Wir wissen doch nicht,
wo sich der Zug mit Lisette und deinen Kindern befindet.«
    »Südwestlich hat der Mann gesagt«, erwiderte Blanka bestimmt.
    »Die Sonne ist weg. Wir haben keinen Führer. Und bald gar kein Licht
mehr.«
    »Wir folgen einfach der Straße.«
    Das war leichter gesagt als getan. Die Dunkelheit fiel übers Land,
und der Mond war noch nicht aufgegangen. Nirgendwo waren Lichter einer
Ansiedlung oder auch nur eines Hauses zu sehen. Und es begann, empfindlich kalt
zu werden.
    »Lass uns am Wegesrand lagern«, schlug Clara vor.
    Auch die beiden alten Männer flehten die Königin an, haltzumachen.
    »Wir hätten das Ferkel mitnehmen sollen!«, klagte der ältere. »Und
Wasser haben wir auch nicht mehr!«
    »Ich habe noch einen halben Schlauch«, meldete sich Clara.
    »Wie ist das möglich?«, fragte Blanka überrascht und zügelte ihr
Pferd.
    »Ich habe gelernt, mit sehr wenig auszukommen«, erwiderte Clara
leise.
    »Gut, dann halten wir an, bis uns der Mond wieder den Weg weisen
kann. Wir ruhen uns aus, und der Erste, der Licht sieht, weckt die anderen.«
    Sie stiegen ab, banden die Pferde an Bäume, teilten sich das Wasser
aus Claras Schlauch und lagerten, in Mäntel und Decken gehüllt, auf dem nackten
Sandboden.
    Trotz des Knackens im Wald, dem Schreien eines Kauzes und der
ungewohnten Raststatt fiel Clara sofort in einen unruhigen Schlaf. In einem
Traum erschien ihr die Katharerin aus Macôn. Sie stand an einem strahlend
hellen Sommertag zwischen einem friedlich schlafenden Löwen und einem weißen
Schaf mitten in einem blühenden Lavendelfeld. Hinter ihr erhoben sich
schneebedeckte Bergkuppen. Ein lauer Wind zupfte an ihrem schwarzen Kleid.
Lächelnd winkte sie Clara zu sich.
    »Du bist noch nicht so weit, mein Kind«, sagte die Frau. »So gern
ich es dir auch ersparen würde: Dir steht noch viel irdisches Leid bevor, ehe
auch du eine Perfecta werden kannst.«
    Das Leid bestand zunächst einmal darin, von Blanka wach gerüttelt zu
werden. Zu gern hätte Clara länger im Licht der Perfecta verweilt.
    »Wir müssen weiter«, drängte die Königin und deutete zum Himmel, von
dem ein blasser kleiner Mond nur wenig Licht aussandte. »Ludwig braucht mich,
er ruft mich, das spüre ich! Und er ist ganz nah!«
    Ludwig rief sie tatsächlich. Denn dies war der Augenblick, in dem er
mit ihrem Namen auf den Lippen in ein anderes Reich überwechselte. Nach der
Oktav von Allerheiligen hatte sich die Weissagung des Zauberers Merlin erfüllt.
Ludwig, der friedfertige Löwe, starb auf dem Bauchberg.
    Vielleicht war seine Seele tatsächlich zu Blanka geflogen und hatte
sie berührt. Vielleicht waren auch die drei Männer, die dem Schnauben eines
Pferdes gefolgt waren, nicht Abgesandte des Satans, sondern die einer anderen
Macht gewesen, die Blanka in der Todesstunde ihres Gemahls mit diesem wieder
zusammenführen sollte. Was Luzifer zu verhindern wusste.
    Solches dachte Clara erst viele Tage später.
    Als die drei dunklen Gestalten vom Wegesrand aus auf das kleine
Grüppchen der Lagernden zustürzten, konnte sie zunächst nur schreien.
    Theobald war zum ersten Mal in seinem Leben in Ohnmacht
gefallen. Nicht die Verletzung hatte ihn gefällt, sondern die ungeteilte
Aufmerksamkeit der Königin. Niemals zuvor war er ihr so nah gewesen, hatte sich
mit ihr so verbunden gefühlt, wie in dem Augenblick, da sie ihm die Klinge an
den Hals gesetzt, er ihren Atem auf seinem Gesicht, ihre Haut nah seiner, ihren
Körper an seinem gespürt hatte. Er wäre wahrhaftig am liebsten gestorben.
    Zu sich kam er erst wieder, als einer seiner Männer ihm im Kloster
kaltes Wasser

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