Die Katze
sie und Bram alte Bekannte wären.
»Gut.«
»Erinnert er sich an meine Schwester?«
»Ja, natürlich. Er hat mir erzählt, dass er ein paar Mal mit ihr aus war.«
»Mochte er sie?«
»Darüber haben wir nicht geredet.«
»Nun, grüßen Sie ihn von mir. Sagen Sie ihm, dass ich es echt aufregend finde, mit seiner Schwester zusammenzuarbeiten.«
»Ist irgendwas passiert, Jill? Rufen Sie deswegen an?«
»O nein. Denken Sie, ich hätte irgendwelchen Ärger?«
»Haben Sie?«
»Nein, alles ist super.«
Alles super, wiederholte Charley stumm. Das war schon das zweite Mal, dass Jill das gesagt hatte; eine befremdliche Wortwahl für die Beschreibung eines Lebens im Todestrakt.
»Ich meine, unter den Umständen«, fügte Jill hinzu, als hätte sie Charleys Schweigen verstanden. »Nein, ich rufe bloß an,
weil man mir gesagt hat, ich könne heute Vormittag telefonieren, und Sie haben gesagt, wenn ich je reden wollte oder irgendwas …«
»Natürlich.« Charley sah sich nach Stift und Papier um. Auf der Kommode an der gegenüberliegenden Wand lag eine Haarbürste neben einem Deo-Spray, auf dem Nachttisch nur ein Foto von Franny und James und ein Exemplar von Annes Roman Denk an die Liebe . Charleys kleiner Kassettenrekorder stand bei ihr zu Hause im Schlafzimmer auf der Kommode. Verlass das Haus nie wieder ohne , ermahnte sie sich, sah ihre tief gerunzelte Stirn im Spiegel, zog die Nachttischschublade auf und kramte gedankenverloren darin herum. »Worüber wollen Sie denn sprechen?« Sie entdeckte einen Bleistift mit abgebrochener Spitze und warf ihn frustriert zurück in die Schublade. Papier gab es auch keins, nichts, womit sie sich hätte Notizen machen können.
»Also, es ist bloß, dass ich gestern, nachdem Sie weg waren, nachgedacht habe.«
»Worüber …?«
»Über das, was ich gesagt habe. Und vor allem über einige Sachen, die ich in meinem Brief geschrieben habe.«
»Es stimmte nicht?« Charley bemerkte ein Foto, das mit dem Gesicht nach unten ganz hinten in der Schublade lag, und beschloss, dass sie darauf schreiben könnte, vorausgesetzt, sie fand etwas zum Schreiben.
»Doch, schon. Alles, was ich Ihnen erzählt habe, war die reine Wahrheit«, erwiderte Jill, und Charley stellte sich vor, wie die junge Frau die Augen aufriss und an ihrem Haargummi nestelte. »Ich hab bloß Angst, dass ich Ihnen eine falsche Vorstellung vermittelt habe.«
»Inwiefern?« Charley wollte gerade ihre Handtasche aus dem Wohnzimmer holen, als sie einen Kugelschreiber neben einer alten Pfeife liegen sah. Automatisch schnupperte sie daran und atmete das Aroma von abgestandenem Haschisch ein. Abgestanden
, erinnerte sie sich, legte die Pfeife zurück, klickte auf den Kuli und begann auf der Rückseite des Fotos zu schreiben: Anruf von Jill, 10.45 Uhr, Donnerstag. Hat Angst, bei unserem Treffen einen falschen Eindruck vermittelt zu haben.
»Nun ja, ich glaube, ich habe ein ziemlich negatives Bild von meiner Familie gezeichnet.«
»Und so war es nicht?«
»Es war nicht nur so«, schränkte Jill ein.
»Nun ja, Sie haben mir erzählt, dass es auch gute Zeiten gab. Die Fahrt nach Disney World, als Ihr Vater Sie Ihr ›Törtchen‹ genannt hat.« Und Ihr Bruder im Nebenbett Ihre Schwester vergewaltigt hat, fügte sie stumm hinzu.
»Ja. Zum Beispiel. Ich meine, mein Vater ist nicht direkt ein Softie oder so, aber er hatte seine guten Momente, wissen Sie. Meine Mutter hat ihn immer einen ›Rohdiamanten‹ genannt.«
Rohdiamant , konnte Charley noch notieren, bevor der Stift seinen Dienst versagte. »Ich glaube, ein Klumpen Kohle braucht mehrere tausend Jahre, bis er ein Rohdiamant ist«, sagte Charley, während sie in der Schublade einen anderen Stift suchte und unter einem zweiten Foto auch fand. Sie zog sowohl den Stift als auch das Foto heraus und starrte in das Gesicht eines grinsenden, dunkelhäutigen Jungen von etwa sechs Jahren. Sie fragte sich, wer das sein mochte, drehte das Foto um, auf dessen Rückseite sie geschrieben hatte, und sah ein kleines Mädchen mit einem breiten Lächeln, das dunkelbraune Gesicht gerahmt von einer Unmenge geflochtener Cornrows, die von einer hellroten Spange zusammengehalten wurden. »Verzeihung. Haben Sie etwas gesagt?«, fragte sie, als ihr bewusst wurde, dass Jill weitergesprochen hatte.
»Ich hab Sie gefragt, ob Sie damit andeuten wollen, dass mein Dad ein Klumpen Kohle ist?«, wiederholte Jill lachend.
Wer waren die Kinder auf diesen Fotos, fragte Charley sich und drehte das Bild
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