Die Katze
Haustürschloss. Beide Frauen wandten abrupt den Kopf in die Richtung. »Hallo?«, rief Charley und rappelte sich auf die Füße.
»Hey, Charley, wie geht’s?«, fragte ihr Bruder, dessen schlaksige Gestalt unvermittelt im Türrahmen zum Wohnzimmer auftauchte. »Oh, sorry, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.« Er starrte die Frau auf dem Sofa an; die Erkenntnis, wer sie war, schlich sich in sein Bewusstsein und traf ihn dann mit der Wucht einer Kugel, die zwischen seinen Augen einschlug. Und dann einer weiteren Kugel, die ihn direkt ins Herz traf. Charley beobachtete, wie Bram gespenstisch blass wurde und sich mit stockendem Atem an die Brust griff.
»Bram«, rief Elizabeth Webb, ein Wort wie ein tiefer Seufzer, und stürzte auf ihn zu. »Mein süßer Junge …«
»Nicht«, warnte er sie und streckte einen Arm vor sich wie ein Schwert. »Wag es nicht.« Er schlurfte zurück zur Haustür und rannte dann den Weg bis zu seinem Wagen hinunter, der hinter dem malvenfarbenen Civic ihrer Mutter parkte.
»Bram«, rief Elizabeth ihm nach.
Charley sah zu, wie ihr Bruder seinen alten MG wendete und in einer Abgaswolke die Straße hinunter verschwand. Sie sah, wie ihre Mutter die Schultern hängen ließ und zu Boden sank, den Namen ihres Bruders wie ein stummes Gebet auf den Lippen. Charley stellte sich vor, wie sie zu ihrer Mutter ging, sie in den Arm nahm, wie Sharon vor all den Jahren ihr Haar küsste und erklärte, dass alles gut werden würde.
Aber stattdessen blieb sie wie angewurzelt stehen, während sie ihre Mutter weinen hörte und sich fragte, wie Mitglieder einer Familie überhaupt je miteinander auskommen konnten.
KAPITEL 15
»Alles in Ordnung mit dir?«
Nur getrennt von einer Fliegengittertür stand Charley ihrem Bruder gegenüber. Das Fliegengitter war an mehreren Stellen eingerissen und achtlos mit Klebeband geflickt, das sich gelöst hatte und in nutzlosen Streifen herabhing.
Dahinter wirkte Bram grau und körnig wie eine Figur aus einer alten Schwarzweiß-Fernsehserie. Er trat die Tür mit nacktem Fuß auf. »Ich habe keinen Kater, falls du das wissen willst. Und ich bin auch nicht bekifft«, sagte er, ihre nächste Frage vorausahnend, und stopfte sich sein weißes T-Shirt in die tief sitzende Jeans.
Charley betrat Brams stickiges Apartment. »Mann, ist das heiß hier.«
»Draußen ist es auch heiß.«
Sie schnupperte wiederholt nach Resten von Marihuana-Schwaden und suchte den gläsernen Couchtisch in der Mitte des Raumes nach halbvollen Gläsern ab. Aber sie roch nur frisch aufgebrühten Kaffee und sah auf dem Tisch nur einen leeren Becher und ein halbes Bagel mit Butter. Sie atmete erleichtert aus und merkte dabei, dass sie schon den ganzen Morgen, ja, eigentlich seit ihr Bruder am Abend zuvor fluchtartig ihr Haus verlassen hatte, den Atem anhielt. Was hatte sie erwartet? Bemüht, die Situation in den Griff zu bekommen, versuchte sie zu ergründen, was hinter der friedlichen Oberfläche des schönen Gesichts ihres Bruders wirklich vor sich ging.
Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und auf einen Anruf von der Polizei gewartet, der sie darüber informierte, dass ihr Bruder wegen Alkohols am Steuer verhaftet worden war. Oder Schlimmeres. Dass es einen Unfall auf der I-95 gegeben hatte und sie seine Leiche identifizieren musste. Oder dass man ihn in einer Gasse gefunden hatte, die dreckige Nadel noch im Arm. War sie in der bangen Erwartung hergefahren, ihn komatös im Bett vorzufinden, Opfer einer tödlichen Überdosis. »Hast du keinen Ventilator?«
»Im Schlafzimmer«
»Du könntest ihn hierherholen.«
»Könnte ich.«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie noch einmal.
»Mir geht es gut«, meinte er mit einem Achselzucken, das verriet, dass es ihm doch nicht so toll ging. »Und selbst?«
»Okay.«
»Möchtest du eine Tasse Kaffee.«
»Klingt gut.«
Mit wenigen raschen Schritten ging Bram zu der winzigen Kochnische, die durch einen hohen Tresen, auf dem ein kleiner Fernseher stand, vom Rest des Raumes abgetrennt war.
Charley ließ sich auf das braune Cordsofa gegenüber dem Fernseher sinken und ihre Handtasche auf den Boden fallen. Ihr fiel auf, dass das Apartment ordentlich und sauber war, der beige-braune Florteppich im Wohnzimmer frisch gestaubsaugt. Die leicht angegilbten Wände konnten einen frischen Anstrich gebrauchen, aber die bunten Drucke, die Bram aufgehängt hatte, wirkten hell und fröhlich. Sie erkannte Kunstdruck von Jim Dine, eine Reihe pastellfarbener
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