Die Kaufmannstochter von Lübeck
den Familien der Ratsherren säen will.«
Die Tage vergingen. Johanna stürzte sich vor allem in ihre Arbeit für das Handelshaus. Die Bücher in aller Sorgfalt zu führen und alle Beträge genauestens zu überprüfen, dieser Aufgabe widmete sie sich mit voller Hingabe. Das half ihr, um sich abzulenken und innerlich zur Ruhe zu kommen. Die Abfuhr der Äbtissin machte ihr nämlich mehr zu schaffen, als sie zunächst gedacht hatte. In der Nacht wachte sie manchmal schweißgebadet auf und glaubte, dass man sie ihrer Sünden wegen vor ein himmlisches Gericht gestellt habe, das sie zu ewiger Verdammnis verurteilte.
Nein, dachte sie, als sie dann erwachte. So unbarmherzig kann der Herr nicht sein.
Und davon abgesehen hatte sie schließlich alles Menschenmögliche getan, um den Schwur, den sie vor so langer Zeit geleistet hatte, auch tatsächlich in die Tat umzusetzen.
Die Tage wurden kürzer. Der Winter brach mit klirrender Kälte über Lübeck herein. Mit einem der letzten Schiffe, das noch im alten Jahr eintraf, erreichte ein versiegelter Brief Johanna. Hintz, der Laufbursche der von Dörens, übergab ihn ihr.
Mit der Hand fuhr sie über das Siegel, das eigenartigerweise keinerlei Wappen oder Zeichen enthielt, die eine eindeutige Aussage darüber erlaubt hätten, wer den Brief verschlossen hatte. Da waren nur zwei lateinische Buchstaben: Ein F und ein B. Frederik von Blekinge, durchfuhr es Johanna.
»Wollt Ihr den Brief gar nicht öffnen?«, fragte Hintz, und erst jetzt bemerkte sie, dass der Laufbursche noch immer im Raum war.
Sie sah ihn verwundert an. »Wieso bist du noch hier? Es gibt sicher noch genug für dich zu tun! Jorgen Ullrych hat einen ganzen Stapel von Pergamenten angefertigt, die an verschiedene Lieferanten verteilt werden müssen, und wartet schon auf dich!«
»Ja, Herrin«, sagte Hintz. Aber aus irgendeinem Grund schien er wie festgewurzelt an seinem Platz stehen zu bleiben. Er machte schließlich die ersten Schritte in Richtung der Tür.
Johanna öffnete den Brief.
Dass Hintz sie noch mit einem längeren Blick bedachte, bevor sie das Siegel tatsächlich erbrochen und das Pergament auseinandergefaltet hatte, bemerkte sie gar nicht.
Die ungelenke Handschrift verwunderte sie nicht. Zwar hatte sie Frederik während ihrer kurzen gemeinsamen Zeit in Köln niemals schreiben sehen, aber sie vermutete einfach, dass er darin nicht sehr geübt war, denn das traf auf die meisten Edelleute zu. Wozu hätten sie sich auch mühen sollen? Schließlich gab es ein Heer von willigen und geübten Schreibern, die sich dazu anheuern ließen, Dokumente zu verfassen, Verträge aufzusetzen oder eine Chronik der Ereignisse abzufassen.
Die Worte, die Johanna nun las, berührten sie zutiefst. In den wenigen Zeilen mit holprigen Buchstaben versicherte Frederik ihr seine Liebe und betonte, wie groß sein Wunsch sei, sie wiederzusehen. Allerdings hatte er inzwischen das Reich von König Albrecht verlassen. Die Anschuldigungen des Herward von Ranneberg waren bis an den Hof des schwedischen Königs gelangt, und so hatte Frederik abermals fliehen müssen.
Jetzt war er in Helsingborg, das mittlerweile unter Waldemars Herrschaft stand. Dass er damit in das Reich des Herrschers floh, der seiner Familie alles genommen hatte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
Aber wenigstens schien es ihm gut zu gehen. Eine schwere Last, die bisher Johannas Herz beschwert hatte, fiel von ihr ab, und sie fühlte sich so leicht und froh wie schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Auf solch ein Zeichen hatte sie lange gewartet. Sehr lange. Erinnerungen stiegen in ihr auf. Erinnerungen an die Zeit in Köln, an das Geschehen im Dom, ihr Beisammensein im Stall, an Berührungen, Zärtlichkeiten und dieses angenehme Gefühl von Nähe und Vertrautheit, das sie auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden hatte, obwohl sie sich doch kaum bekannt gewesen waren. Wie sehr sehnte sie sich jetzt danach, dass er ihr über das Haar streichen, sie in den Arm nehmen würde. Schmerzlich machte ihr dieser Brief klar, was sie seit der Zeit in Köln vermisst hatte – und wie stark dieses Gefühl war. Stärker als vieles, von dem sie bisher geglaubt hatte, es bestimme ihr Leben. Es muss einen Weg geben, dass wir wieder zusammenkommen, dachte sie. Aber gleichzeitig war ihr klar, dass das im Moment vollkommen unmöglich war. Vielleicht war das Schiff, das diesen Brief gebracht hatte, das letzte, das aus Helsingborg nach Lübeck gekommen war. Das letzte für dieses
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