Die Kaufmannstochter von Lübeck
Ansicht. Man hat ihn angegriffen, weil man den Bürgermeister vom Stuhl stoßen wollte, sich aber nicht getraut hat, diesen geradewegs und mit offenem Visier zu bekämpfen.«
Johanna schlief so gut und tief wie schon lange nicht mehr, obwohl der Lärm aus dem Schankraum erst im Morgengrauen aufhörte. Aber in dieser Nacht hatte sie das Gefühl, dass ihr nichts etwas anhaben konnte. Alles schien in einer seltenen Übereinstimmung zu sein: ihr Leben, ihre Wünsche und das, wovon sie glaubte, dass es ihre eigentliche Bestimmung war. Zwischen all dem gab es in diesem Augenblick keinen schmerzlich fühlbaren Unterschied mehr.
Der Tag war längst angebrochen, als der ferne Klang von Hörnern sie weckte. Die Hornsignale schallten aus verschiedenen Richtungen und waren von so ungewöhnlichem Klang, dass Johanna ganz aufgeregt war.
»Frederik, was bedeutet das?«, fragte sie.
Frederik schlief noch, und sie musste ihn wachrütteln. Aber dann war er sofort hellwach und setzte sich auf. »Das ist der Festungsalarm!«
»Was heißt das?«
»Man rechnet mit einem Angriff. Seit gestern berichten Fischer davon, dass Hanseschiffe Kopenhagen angegriffen haben und die Stadt brennt – und das ist nicht weit von hier entfernt.«
Sie zogen sich rasch an. »Nimm alles mit, was dir gehört«, sagte Frederik.
»Ich habe hier auch sonst nie etwas zurückgelassen, weil man die Tür nicht abschließen kann.«
Als sie fertig waren, ging Johanna kurz zum Fenster und schob den Alabastervorhang zur Seite. Auf den Straßen herrschte hektisches Treiben. Überall waren Menschen. Die Bewohner der ungeschützten Stadt nahmen das Wichtigste mit, um sich in die Festung zu retten. Hier und da liefen Schweine, Ziegen und Hühner zwischen den zur Festung strebenden Menschen. Karren wurden hastig mit dem Nötigsten gepackt. Jeder wollte so viel wie möglich vor zu befürchtenden Plünderungen der Angreifer retten. Und alles, was als Waffe zu verwenden war – Äxte, Messer, Hacken und Sensen –, wurde auch mitgenommen.
»Jetzt wollen wir tatsächlich in die Festung zurückkehren, aus der ich gestern erst entkommen bin«, meinte Johanna.
»Welche andere Wahl haben wir?«, gab Frederik zurück.
»Keine«, wusste Johanna. »Selbst wenn Bürgermeister Brun Warendorp persönlich die Flotte der Hanse anführen und befehligen sollte, würde er uns beide sofort gefangen nehmen und in Ketten legen lassen, wenn wir ihm in die Hände fielen …«
Johanna und Frederik verließen das Gasthaus, beide hatten die Kapuzen ihrer Mäntel tief ins Gesicht gezogen. Zusammen mit einem großen Strom von Menschen machten sie sich auf den Weg zum Haupttor der Festung. Auf dem Innenhof herrschte bereits Gedränge. Die großen Gebäude und Hallen der Festung konnten den Bewohnern Helsingsborgs notfalls monatelang Unterschlupf bieten. Es gab tiefe Brunnen, die dafür sorgten, dass die Versorgung mit Trinkwasser so schnell nicht in Gefahr geraten konnte. Zudem war die Gegend für ihren Regenreichtum bekannt, weshalb auch die Zisternen stets gefüllt waren. Und an Vorräten hatten die Helsingborger alles mitgeschleppt, was sie tragen konnten. Aber auch in der Zeit davor war vom Festungsvogt Stockfisch in großen Mengen eingelagert worden. Es war nicht unwahrscheinlich, dass eher den Angreifern die Nahrungs- und Trinkwasservorräte ausgingen als den Verteidigern und sie unverrichteter Dinge wieder abziehen mussten.
Innerhalb der Festung bot sich zunächst ein teilweise chaotisches Bild. Söldner des Festungsvogtes gaben Waffen an diejenigen Stadtbewohner aus, die fähig waren, sie zu führen, aber nicht schon selbst bewaffnet waren.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Johanna.
»Abwarten, was geschieht. Aber ich würde gerne etwas mehr darüber wissen, welche Bedrohung da herannaht«, meinte Frederik.
»Und wie willst du das erfahren?«
»Komm mit. Es gibt ein paar sehr gute Aussichtspunkte hier auf der Festung.«
»Zum Beispiel der, von dem aus du gesehen hast, wie ein paar ungehobelte Waffenknechte mich herumgestoßen haben!«
»Zum Beispiel.«
Frederik führte Johanna zum Aufgang eines Turms. Sie stiegen ungehindert empor. Ein Mönch kam ihnen von oben entgegen, den Frederik offenbar kannte. Sie wechselten einige Worte in der Sprache des Nordens. Dann setzte jeder von ihnen den Weg fort – der Mönch abwärts und Frederik aufwärts.
»Was hat er gesagt?«, fragte Johanna, während sie Frederik folgte.
»Die Lübecker sollen Kopenhagen erobert und zerstört
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