Die Kaufmannstochter von Lübeck
war. Der Wirt hatte die Kammer ausräumen lassen, denn zur Zeit des Hansetages konnte man jeden noch so kleinen überdachten Winkel teuer vermieten. Jedes Gasthaus war ausgebucht, und überall in der Stadt kampierten Mitglieder der verschiedenen Delegationen und die sie begleitenden Söldner: manchmal in Hausnischen oder an Brunnen unter freiem Himmel, andere wie Frederik von Blekinge im Pferdestall. Für manchen Handwerker war es einträglicher, die Arbeit für die Dauer der Zusammenkunft einzustellen und die Werkstatträume zu vermieten, anstatt seiner Arbeit nachzugehen. Im Raum neben der Abstellkammer war Moritz von Dören selbst einquartiert, zusammen mit Bruder Emmerhart. Der Mönch war der Familie nicht nur durch den Marzipan- und Zuckerverkauf in seiner Lübecker Apotheke eng verbunden, er war auch seit jeher geistlicher Ratgeber und Hauskaplan der Familie. Emmerhart hatte nicht nur das Mönchsgelübde abgelegt, sondern auch die Priesterweihe empfangen. Er hatte einige Jahre in Rom, Venedig und Trier gelebt und exzellente Verbindungen innerhalb der Kirchenhierarchie. Und ganz zu Anfang seines Werdegangs war er drei Jahre Schreiber in den Diensten des Bischofs von Köln gewesen. Dass er die von Dörens auf den Hansetag begleitete, hatte allerdings eher private und geschäftliche, aber keine politischen Gründe. Emmerhart stammte aus der Gegend und nahm die Gelegenheit wahr, einige Verwandte zu besuchen. Außerdem wollte er Gretes Hochzeit zum willkommenen Anlass nehmen, sich mit Pieter van Brugsma dem Jüngeren darüber zu unterhalten, ob es nicht möglich wäre, an die Rezepturen zur Herstellung und Veredelung des Marzipans heranzukommen. Im »Großen Hahn« waren noch einige andere Ratsherrn aus Lübeck samt ihrem Gefolge untergebracht, darunter auch Bürgermeister Brun Warendorp selbst.
Johanna ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken immer wieder abschweiften. Es fiel ihr schwerer als sonst, sich auf ihre Schreibarbeiten zu konzentrieren, und das hatte nichts damit zu tun, dass ihre Schwester unablässig redete. Der Fremde, der Johanna im Dom begegnet war, ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste sie an Frederik von Blekinge denken. An den Klang seiner Stimme, an den Blick, mit dem er sie angesehen hatte, an die Art, wie er ging. Sie konnte es einfach nicht verhindern, dass dieser Mann sich immer wieder in ihre Gedanken stahl, obwohl sie das nicht wollte. Schließlich war sie eine zukünftige Braut Christi und wollte Keuschheit geloben. Aber seit der Begegnung mit Frederik stand ihr Inneres dazu in einem Gegensatz, der immer schwerer zu leugnen war. Liebe, ein Mann, eine Familie, Kinder – das hatte sie sehr frühzeitig für ihren Lebensweg ausgeschlossen, denn wie hätte sie sonst die Schuld abtragen können, in der sie zweifellos stand, da sie doch dem Schrecken der Pest auf so wundersame Weise entgangen war. Der Wille entscheidet , dachte sie. Immer. Und meinen Willen habe ich einmal gefasst und werde ihn nicht wieder ändern.
Die Tatsache, dass ihre Schwester hier in Köln heiraten würde und sie sich seit ihrer Ankunft in der größten Stadt des Heiligen Römischen Reiches beinahe täglich auch mit den Vorbereitungen zu diesem Ereignis beschäftigen musste, hatte vielleicht auch dazu beigetragen, dass ihre Gedanken in diese Richtung gingen.
»Es wird dunkel«, stellte Grete fest. »Soll ich eine Kerze entzünden?«
»Gerne«, sagte Johanna. Das Fenster des Zimmers, das sie bewohnten, war nicht verglast, sondern nur mit einem Vorhang verhängt, durch den das Tageslicht nun kaum noch hereindrang. Johanna hatte gar nicht weiter darauf geachtet, dass es immer dunkler geworden war. Die Tage wurden jetzt schon deutlich kürzer. Die finstere Zeit des Jahres kündigte sich an, und auch wenn das Klima hier am Rhein deutlich milder als im heimatlichen Lübeck war, so zog es doch inzwischen ziemlich unangenehm. »Ich werde den Fensterladen schließen«, kündigte Johanna daher an.
Wenig später saßen sie bei Kerzenlicht in dem engen Zimmer.
»Pieter hätte schon vor Tagen eintreffen sollen«, sagte Grete plötzlich unvermittelt. Johanna hatte schon die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, dass auch Grete von irgendetwas beunruhigt wurde, was sie bisher jedoch nicht offen geäußert hatte. Und jetzt zeigte sich, dass es mehr war als nur eine allgemeine Aufgewühltheit wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit. »Ich mache mir langsam ernsthafte Sorgen.«
»Du glaubst doch nicht, dass er es sich
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