Die Kaufmannstochter von Lübeck
war bereits angekleidet und saß wieder an ihrer Schreibarbeit, denn der Tag war mit anderen Verpflichtungen gefüllt. Sie hatte den Fensterladen geöffnet, um das Tageslicht nutzen zu können. Da es durch den Alabastervorhang nun empfindlich kühl hereinzog, hatte sich ihre Schwester in ihre Decke eingerollt. Nun drängte Johanna den Alabastervorhang etwas zur Seite, sodass sie den Reiter sehen konnte.
Eine Botschaft so früh am Morgen – da muss es um etwas wirklich Wichtiges gehen , überlegte sie. Dieser Mann sah aus, als wäre er die ganze Nacht geritten, und das offenbar querfeldein durch unwegsames Gelände. Morast war bis hinauf zum Halsansatz des Pferdes gespritzt.
Inzwischen war zu hören, dass nach und nach die Riegel zur Seite geschoben wurden, die in der Nacht die Eingangstür des »Großen Hahn« verschlossen hatten. »Bin ja schon da! Nicht so ungeduldig!«, war aus dem Schankraum dumpf die Stimme von Peter dem Wirt zu hören. Ungeduld konnte Peter schon bei seinen Gästen nicht ausstehen, wenn er mit dem Nachschenken der Bierkrüge mal nicht hinterherkam. Dann konnte er ziemlich garstig werden und hatte dann auch vor hohen Herrschaften wenig Respekt. Selbst der durchaus standesbewusste Brun Warendorp hatte sich ihm gefügt. Schließlich war auch dem Bürgermeister von Lübeck sehr wohl bewusst, dass sich ein Wirt angesichts der knappen Quartierlage im Moment einiges herausnehmen konnte, ohne dadurch irgendeinen Schaden befürchten zu müssen.
»Ich muss die Nachricht persönlich übergeben«, erklärte der Reiter.
»An wen?«, fragte der Wirt.
»An Moritz von Dören, den Ratssendboten aus Lübeck.«
»Der spricht wie die Leute in Flandern!«, war jetzt Grete zu hören, die inzwischen wach geworden war und aufrecht in ihrem Bett saß. »Geh doch bitte und weck unseren Vater! Das muss eine Nachricht von Pieter sein! Aber ich müsste mich erst fertig machen!«
Johanna ging hinaus auf den Flur und klopfte an der Tür ihres Vaters. »Geh schon mal hinunter und empfang den Boten«, rief dieser durch die Tür. »Ich komme sofort.«
Johanna ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie eilte die Treppe hinunter, die in den Schankraum führte.
Der Fremde hielt ein versiegeltes Dokument in der Hand. »Ihr solltet diesem Mann etwas zu essen und zu trinken machen. Er hat offenbar einen langen schweren Weg hinter sich«, sagte Johanna zum Wirt.
»Wenn Eure Familie dafür aufkommt, soll er das Bier fassweise trinken«, gab der Wirt zurück.
»Darüber macht Euch keine Sorgen.« Johanna wandte sich an den Boten und streckte die Hand aus: »Ich bin Johanna von Dören, mein Vater wird hier gleich erscheinen, aber Ihr könnt Eure Botschaft auch mir übergeben. Ich bin nicht nur seine Tochter, sondern auch seine Schreiberin, und gleichgültig, worum es sich handeln mag, so werde ich es am Ende doch zu lesen bekommen!«
»Ich habe strikte Anweisungen meiner Herrschaft, der Familie van Brugsma«, erklärte der Fremde.
»Das verstehe ich«, sagte Johanna. »Aber wenn Ihr in den Diensten der Familie van Brugsma hierher gekommen seid, könnt Ihr mir ja vielleicht wenigstens sagen, ob es Pieter dem Jüngeren gut geht. Er wird hier in Köln nämlich schon sehnsüchtig zu seiner eigenen Hochzeit erwartet.«
»Wie ich schon sagte, ich habe meine Anweisungen. Und man ist es gewohnt, dass ich die peinlich genau einhalte.«
Inzwischen kam nun auch Moritz von Dören die Treppe herunter, die vom Obergeschoss in den Schankraum führte.
Ihm folgten Bruder Emmerhart und Grete. Moritz hatte offenbar zumindest einen Teil der Unterhaltung zwischen Johanna und dem Boten noch mitbekommen.
Wenig später hatte Moritz das Dokument in den Händen und brach das Siegel. Ein verschnörkeltes B wies unzweifelhaft auf die Herkunft des Dokuments hin.
»Es ist eine Nachricht von Pieter dem Älteren, der aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Köln kommen wird.«
»Und wo bleibt mein zukünftiger Gemahl?«, fragte Grete.
Moritz reichte seiner älteren Tochter das Pergament. »Lies selbst. Er wird erst mit deutlicher Verspätung eintreffen, weil sein Vater ihn zuvor auf eine kurzfristig notwendig gewordene diplomatische Mission geschickt hat.«
Moritz faltete das Pergament wieder zusammen.
»Ich werde mich heute noch auf den Rückweg machen«, erklärte der Bote. »Wenn Ihr bis Mittag eine Nachricht für mich habt, nehme ich sie gerne mit nach Antwerpen.«
»Davon werde ich ebenso gerne Gebrauch machen«, erklärte Moritz von Dören.
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