Die Kaufmannstochter von Lübeck
auch eine angemessene Gegenleistung für ihre Dienste haben. Johanna beschrieb den Zwerg gestenreich und hoffte, dass die Menschen sie verstanden.
»Ich habe ihn gesehen«, sagte ein etwas abseits stehender Junge mit starkem Akzent, aber immerhin verständlich. Er war nicht älter als neun oder zehn Jahre, seine Kleidung starrte vor Dreck.
Eine der Frauen zischte ihm ein paar Worte zu, die Johanna nicht verstand. Daraufhin wich der Junge Johannas Blick aus.
»Der Zwerg war jeden Tag hier, und ich bin mir sicher, dass ihr ihn auch gesehen habt«, versuchte es Johanna noch einmal. »Ich muss ihn unbedingt finden.«
»Was will denn eine hochwohlgeborene Herrin, deren Kragen mit Pelz besetzt ist, von einem wie dem Zwerg?«, fragte einer der Männer, der sich erstaunlich gut ausdrücken konnte. Er war der Älteste und hatte schon einen gebeugten Rücken. Sein Gesicht war so zerfurcht, dass es Johanna an die Wetterseite eines Baumes erinnerte, wie man ihn mitunter an der Küste fand.
»Das muss ich ihm schon selbst sagen«, erwiderte Johanna. »Aber es ist sehr wichtig, dass ich ihn finde.«
Der Junge wollte etwas sagen, aber der Blick des Mannes ließ ihn sofort verstummen.
»Wir wollen keinen Ärger«, antwortete statt seiner die Frau mit dem Säugling auf erstaunlich selbstbewusste Weise. »Da wir fremd hier in der Stadt sind und es nirgendwo eine Herberge gibt, weil all diese Gesandten aus fremden Städten zurzeit in Köln sind, werden wir uns mit allen gutstellen müssen.«
Johanna verstand die Not dieser Leute durchaus. Sie hatten sich einerseits nicht gerade den besten Zeitpunkt dafür ausgesucht, in der Stadt ihr Glück zu suchen, die zum Bersten mit Menschen gefüllt war; die Leute konnten vermutlich froh sein, dass man sie überhaupt innerhalb der Stadtmauern duldete.
Aber andererseits fiel gerade zu Zeiten eines solchen Großereignisses wie des Hansetags besonders viel Arbeit an, sodass es für Fremde einfacher war, eine wenn auch eher schlecht bezahlte Tätigkeit zu finden.
Johanna griff zu ihrer Geldbörse und holte mehrere Silberstücke hervor. Die gab sie der Frau mit dem Säugling.
»Bei allen Heiligen, wofür ist das?«, fragte die Frau verwundert. Sie gab die Münzen an den Mann weiter, der sie mit den Zähnen prüfte.
»Für ein leichteres Leben«, sagte Johanna. »Zumindest in den nächsten Tagen.«
»Aber wir haben Euch gar nichts gesagt.«
»Ich weiß.«
Johanna ging weiter. Doch sie war kaum ein Dutzend Schritte gegangen und überlegte, wen sie noch nach dem Zwerg fragen konnte, da hörte sie hinter sich die Stimme der Frau mit dem Säugling. »Wartet, hohe Frau!«, rief sie.
Johanna drehte sich um und kehrte zurück.
»Ihr könnt mir doch helfen?«
»Ihr habt ein gutes Herz«, sagte die Frau. »Dann wollen wir es auch haben.«
»Wo ist der Zwerg?«
»Der Junge hat ihn gesehen und weiß, wo man ihn zurzeit findet.«
»Der Herr möge es euch vergelten.«
Der Junge führte Johanna durch ein paar enge Gassen. Er lief so schnell, dass sie sich anstrengen musste, um ihm überhaupt folgen zu können. Schließlich erreichten sie einen Ort, wo sich kleinere, fast schnurgerade geführte Straßen kreuzten. Dadurch entstand ein kleiner Platz. Eine ganze Anzahl von Bettlern hatte sich hier eingefunden. Ein Blinder spielte auf einer Laute und sang dazu.
»Hier habe ich den Zwerg zuletzt gesehen«, sagte der Junge.
»Er ist nicht hier.«
»Er könnte in dem Haus da vorne schlafen. Wartet ein bisschen ab, dann zeigt er sich vielleicht.«
»Was ist das für ein Haus?«
»Es gibt dort Speisen für die Armen«, sagte der Junge. »Nur nicht für uns. Man hört an unserer Sprache, dass wir fremd sind. Darum gibt man uns nichts.«
»Ich danke dir«, sagte Johanna und gab dem Jungen eine Münze.
»Euch würde man ganz bestimmt etwas geben, obwohl Ihr es Euch kaufen könntet«, sagte er. Dann lief er lachend davon.
Johanna betrat das Haus, in dem der Junge Rumold den Zwerg vermutet hatte. Das Gebäude wirkte heruntergekommen. Es war in einfacher Fachwerkbauweise errichtet worden, und im Gebälk steckte der Holzwurm. Das sah Johanna auf den ersten Blick. Vermutlich war das Haus auf Dauer gar nicht mehr zu retten. Johanna kannte sich mit diesen Dingen aus, denn sie hatte immer wieder Lagerhäuser inspiziert und dabei stets überprüft, ob die verdächtigen Zeichen der Balkenpest, wie man den Holzwurmbefall auch nannte, zu finden waren. Selbst ein Patrizierhaus konnte noch so mächtig und erhaben
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