Die Kaufmannstochter von Lübeck
sein, es war doch niemals sicher davor, dass nicht eines Tages der Dachstuhl von diesem Fluch befallen wurde.
Es war wie mit vielen anderen Dingen im Leben: Wenn das Übel nicht frühzeitig genug entdeckt wurde, gab es keine Heilung mehr – oder nur noch die Hoffnung auf göttliche Gnade, wie sie Johanna selbst zuteilgeworden war.
Aber da dieses Haus ohnehin dem Untergang geweiht war und früher oder später abgerissen werden musste, konnte es so lange noch einem mildtätigen Zweck dienen und damit das Ansehen seines Besitzers mehren.
Johanna kam in einen großen Raum. An einer Feuerstelle wurde Suppe ausgeschenkt. Ein riesiger, kahlköpfiger Mann füllte die Portionen in Gefäße aller Art. Die zahnlose Frau, die Johanna an den vergangenen Tagen auf dem Domplatz gesehen hatte, half ihm dabei. Da sie sich nicht besonders geschickt anstellte, wurde sie von dem Kahlkopf immer wieder mit obszönen Beschimpfungen bedacht. Aber als er Johanna sah, hörte er augenblicklich damit auf. Zu ungewöhnlich war es wohl, dass sich eine Frau von Stand an einen Ort verirrte, an dem sich die Ärmsten der Armen einfanden.
Rumold den Zwerg fand Johanna in einer Ecke auf dem Boden sitzend. Er hielt einen Krug mit Suppe in beiden Händen, aber seine Aufmerksamkeit galt wohl schon längere Zeit Johanna. Er beobachtete sie offenbar. Als Johanna den Blick des Zwerges erwiderte, sah er zur Seite und tat so, als hätte er Johanna nicht bemerkt.
Johanna ging zu ihm.
»Rumold?«
»Ich kenne Euch nicht, Herrin.«
»Vielleicht willst du mich aus irgendeinem Grund nicht kennen, Rumold. Davon, dass du blind bist, habe ich auf dem Domplatz nichts bemerkt. Und ich glaube auch nicht, dass jemand wie Herward von Ranneberg dir dann sein Pferd anvertraut hätte. Gestern Abend war das …«
»Ich will nicht mit Euch reden, Herrin.«
»Du willst Geld.«
»Nicht Euer Geld!«, wehrte der Zwerg ab, als Johanna zur Börse greifen wollte.
»Was soll das bedeuten?«
»Es soll bedeuten, dass ich Euch nie gesehen habe.«
»Ich brauche deine Hilfe. Du musst doch die Unterhaltung zwischen Herward von Ranneberg und Frederik von Blekinge mitbekommen haben und …«
»Ihr meint den Mann, der als Verräter und Mörder festgenommen wurde und bald geköpft wird.« Der Zwerg kicherte. »Das hat sich wie ein Lauffeuer überall in der Stadt verbreitet.«
»Er ist unschuldig. Und Herward von Ranneberg …«
»Hört mir gut zu, hohe Frau. Dieses Haus gehört Herward von Ranneberg. Er ist ein Wohltäter für die Armen, und als gestern einer seiner Vertrauten auf dem Domplatz erschien, um uns zu sagen, dass wir uns dort die nächsten Tage nicht aufhalten sollten, habe ich nicht nach dem Grund gefragt, zumal es hier eine gute Suppe gibt und Herr Herward dafür sorgt, dass ich mein Auskommen habe.«
»Wir beide haben Herward einträglich mit dem Mann zusammen gesehen, der angeblich seinen Reisebegleiter umgebracht haben soll!«
»Mag sein. Mag auch nicht sein.«
»Aber es ist die Wahrheit. Und so wahr der Herr alles gibt, so gibt es nur eine Wahrheit, Rumold!«
»Nein, hohe Frau, da irrt Ihr Euch. Es gibt eine Wahrheit für Leute wie Euch und eine für Leute wie mich … Geht jetzt. Und lasst mich zufrieden. Es sehen uns schon einige hier seltsam an.«
Johanna fiel es wie Schuppen von den Augen. Herward hatte dafür gesorgt, dass all die Bettler, die ihn vielleicht zusammen mit Frederik gesehen haben könnten, für ein paar Tage aus der Umgebung des Doms verschwunden waren. Und den Mund hatte er ihnen mit Almosen gestopft. Keiner von ihnen wird reden, wurde es Johanna klar. Und selbst wenn – es wäre fraglich, ob ihnen jemand Glauben schenken würde.
Tiefe Verzweiflung stieg in ihr auf. Frederik war verloren, dachte sie.
Johanna ging zurück zum Dom. Ihr Herz war schwer. Sie dachte die ganze Zeit darüber nach, was sie noch tun konnte, um Frederik zu helfen.
Man hatte ihn offensichtlich als Sündenbock benutzt. Was ist Herwards Absicht in diesem bösen Spiel?, fragte sie sich.
Sie ging in den Dom und betete. Jetzt konnte ihr nur der Herrgott helfen. Und ob der ihr noch so gewogen war wie früher, daran hatte sie mittlerweile doch erhebliche Zweifel.
»O Herr, lass mich klare Gedanken haben«, betete sie. Und die Zwiesprache mit dem Höchsten gab ihr überraschend viel Kraft. Der Mut, der sie schon beinahe vollkommen verlassen zu haben schien, kehrte zurück. Aber gleichzeitig auch das tiefe Bewusstsein der Schuld, die sie ausgerechnet an diesem
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