Die Kaufmannstochter von Lübeck
letzten Jahrzehnten hier eingestellt hatte. Stralsund war im Gegensatz zu Lübeck weder eine freie noch eine dem Kaiser direkt unterstellte Reichsstadt. Zumindest hatte sie diesen Status niemals offiziell erhalten. Und doch regierte man sich in Stralsund nach lübischem Recht selbst. Zwar war man formal den pommerschen Landesherrn unterstellt und schickte auch seine Vertreter zum Landtag der Stände. Aber wenn der Landesherr oder der Landtag Beschlüsse fassten, die den Interessen Stralsunder Kaufleute zuwiderliefen, dann pflegte man sie einfach zu ignorieren. Und weder der Landesherr noch irgendjemand sonst hätte die Macht gehabt, sich gegen die äußerst wehrhafte Stadt durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass Anordnungen und Beschlüsse auch ausgeführt wurden. Die hohen Mauern Stralsunds und das sie umgebende Wasser waren ein wirksamer Schutz gegen derlei Anmaßungen. Und die Anzahl der städtischen Söldner war in Stralsund höher als irgendwo sonst. Frederik wusste nur zu gut, dass man in der Vergangenheit selbst in Schonen, Blekinge und anderswo in Südschweden um geeignete Männer geworben hatte.
Schließlich gelangte Frederik zu einem Gasthof, den er bereits auf dem Hinweg aufgesucht hatte. Das Gasthaus trug den Namen »Zur Ranenhexe« und erinnerte daran, dass die heidnischen Ranen einst den gesamten Ostseeraum von der Insel Rügen aus unsicher gemacht hatten, bis ein dänischer König sie zwangsweise zum Christentum bekehrt und ihrem räuberischen Treiben ein Ende gesetzt hatte. Aber noch immer waren sowohl auf Rügen als auch an der gesamten pommerschen Küste die Geschichten über die unheimlichen Götter im Umlauf, zu denen dieses Volk gebetet hatte. Über den vierköpfigen Svantewit zum Beispiel und andere Geschöpfe, die zwar nach der Lehre der Kirche reiner Aberglauben waren, was aber nichts daran änderte, dass vielen noch immer ein Schauder über den Rücken lief, wenn man von ihnen erzählte.
Frederik zügelte vor dem Gasthaus »Zur Ranenhexe« sein Pferd, stieg aus dem Sattel und machte es an einem Pflock fest. Einen Moment lang hielt er dann inne. Er dachte an Johanna, diese mutige junge Frau, die wohl keinen ganz unwesentlichen Beitrag dazu geleistet hatte, dass er jetzt überhaupt in Freiheit war. Eines Tages sehen wir uns wieder , nahm er sich fest vor. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war schließlich stark genug, um ihre Wege wieder zueinanderführen zu lassen. Aber bis dahin würde wahrscheinlich noch viel Zeit vergehen.
Ein versonnenes Lächeln huschte über Frederiks markantes Gesicht, als er an die Zeit in Köln zurückdachte. Nein, das konnte nicht alles zwischen ihnen beiden gewesen sein. Diese Geschichte hatte gerade erst begonnen. Frederik konnte sich nicht erinnern, dass ihm je eine Frau begegnet war, die ihn in so kurzer Zeit so vollkommen fasziniert und in ihren Bann geschlagen hatte. Wenn sie beide nicht füreinander bestimmt waren, dann gab es wohl auch kein anderes Paar, von dem sich das ernsthaft behaupten ließ, fand er.
Frederik betrat den Schankraum. Um diese Zeit waren dort nur wenige Gäste. Die meisten von ihnen waren vermutlich ebenso Durchreisende wie Frederik – vor kurzem in Stralsund angekommen und nun auf der Suche nach jemandem, der sie zu weiter entfernt liegenden Zielen brachte. Nach Visby auf Gotland zum Beispiel, wo sich seit jeher ein Zentrum des Ostseehandels befand. Oder nach Bornholm, Danzig, das Ordensland im Baltikum.
Fast alle hatten einen Bierkrug auf dem Tisch stehen, manche auch eine richtige Mahlzeit. Es roch nach angebranntem Fleisch und vergossenem Bier. Frederik ging zum Schanktisch. Der Wirt hieß Hartmut, manche nannte ihn Hartmut Groß, weil er die meisten anderen Männer um mehr als einen Kopf überragte. Bei anderen war er unter dem Namen Hartmut Riese bekannt. Er selbst nahm das nicht so genau, was ihm schon mal Ärger mit dem Steuereintreiber der Stadt beschert hatte. Und es gab sogar Gerüchte, er sei ursprünglich als Hartmut Knecht bekannt und einem pommerschen Rittergutsbesitzer leibeigen gewesen, bevor er hinter die Mauern von Stralsund geflohen war, um sein Schicksal künftig selbst zu bestimmen.
Hartmut war inzwischen um die fünfzig, und sein Haupthaar war auf einen schmalen Kranz zusammengeschmolzen. Umso üppiger spross der dunkle Bart, der ihm fast bis unter die Augen ging.
»Erkennst du mich noch, Riese?«, fragte Frederik den Wirt. Auf Grund seiner massigen Erscheinung ließ Hartmut den ebenfalls recht großen und
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