Die Keltennadel
Welt des reinsten Weiß, und die Luft war schneidend kalt und klar. Es half ihr, die Erinnerung an den grotesken Pilz und seinen widerwärtigen Geruch abzuschütteln. Hinter den Stechpalmen schwankten die kahlen Äste von Linden und Buchen mit ihrer weißen Kruste im eisigen Wind. Becca zitterte, sie war es nicht gewöhnt, im Freien zu sein. Molly hatte ihren freien Tag, das hieß, sie und David waren die einzigen Menschen auf diesem windgepeitschten Berghang. Als sie um eine Kurve bog, flogen drei große Vögel auf, die im Schnee gepickt hatten, und suchten flügelschlagend Zuflucht in den Bäumen. Dann sah sie das Blut.
Leuchtende Spritzer davon tränkten den Schnee. Angst griff wie ein Schraubstock nach Becca. Die Vögel mussten… Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken. Als sie langsam zu der von Blut befleckten Stelle vorrückte, fiel ihr auf, dass keine menschlichen Fußspuren zu sehen waren. Aber überall waren die Abdrücke der vierzehigen Vogelfüße. In der Mitte eines Flecks entdeckte sie etwas, das wie ein gelber Kiesel aussah – der Stein einer Beere. Die Vögel hatten die Beeren der Stechpalmen gegessen, und die hatten ihre Exkremente rot gefärbt!
Beunruhigt von diesem neuerlichen seltsamen Vorzeichen, näherte sie sich dem Getreidespeicher, einem zylindrischen Steinbau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er hatte sieben Stockwerke oder Ebenen; man erreichte sie über eine Treppe, die sich wie ein Korkenzieher außen um das Gebäude wand. Sie hatte es renovieren lassen und die ersten beiden Ebenen zu einer Wohnung für David ausgebaut. Durch den Schnee ringsum wirkten die Steine noch schwärzer als sonst und trugen zu der düsteren und bedrohlichen Atmosphäre des Ortes bei. Becca stieg eine Treppe hinauf und klopfte zaghaft an die Eichentür. Nach etwa einer Minute hörte sie, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. David öffnete die Tür und stand in einem roten Talar vor ihr, ein Zorn so eisig wie der Morgen prägte sein unrasiertes Gesicht.
»Ist alles in Ordnung, David? Es tut mir leid wegen letzter Nacht, ich –«
»Was tust du hier? Wie kannst du es wagen, in meine Privatsphäre einzudringen!«, fauchte er sie an.
»Ich habe mir Sorgen gemacht… Ich dachte, du seist… verletzt. Dass vielleicht das Schwert…« Sie zog die antike Waffe unter dem Umhang hervor.
Er riss es ihr aus der Hand. »Du darfst nie davon sprechen, weder jetzt noch später. Und du musst… du musst dich selbst durch Gebet und Fasten züchtigen, wie ich es dir beigebracht habe… In uns beiden ist ein Übermaß an Blut.«
Er drehte sich abrupt um und schlug die Tür zu.
Verängstigt und gedemütigt kroch sie zurück zum Haus. Im Badezimmer erbrach sie heftig, und dann lag sie die nächsten Stunden auf ihrem Bett und grübelte darüber nach, wie ihre Gefühle immer mehr von Davids Launen abhingen. Im jetzigen Zustand fühlte sie sich der CD-Präsentation nicht gewachsen. Sie würde George Masterson anrufen und ihr Erscheinen absagen.
Vielleicht verschob sie sogar ihren Flug nach Los Angeles.
Aber am Nachmittag kam David zum Haus und flößte ihr, ohne die Ereignisse des Morgens oder der Nacht zu erwähnen, neue Zuversicht ein.
Nun, als sie im Flugzeug wieder in den Schlaf sank, stieg eine Flut von Bildern und Worten mit wachtraumhafter Klarheit in ihr auf. Salome, deren sinnliches Gesicht sich in die versteinerten Züge der Belle Dame verwandelt hatte, sprach zu ihr:
Die Lilie auf deiner Stirn Seh ich von Fiebern feucht und fahl, Und rasch auf deiner Wange welkt Das Rosenmal.
Salome hob den Kopf Johannes’ des Täufers von einem Silberteller und küsste die blutbefleckten Lippen, während drei Vögel Blutstropfen aufpickten, die in den Schnee spritzten. Die Ritter und Adligen mit ihren Leichengesichtern versammelten sich um sie und streckten die Hände nach dem tropfenden Ding aus. Becca spürte, wie eine eisige Hand nach ihr griff.
Die Stewardess hatte sie an der Schulter berührt. »Sie zittern ja. Darf ich Ihnen eine Decke bringen?«
»Wie… ? Oh, nein danke, es geht schon.«
Eine weitere Inschrift auf dem Fenster kam ihr in den Sinn.
Und Mund um Mund verging vor Gier Und klaffte warnend, weit und bang – Da fuhr ich auf und fand mich hier Auf dem kalten Hang.
Sie schloss wieder die Augen, elftausend Meter über der Nachtseite der Erde.
III
Der Turm
48
I m Dämmerlicht erstreckten sich purpurne Wolkenstreifen in parallelen Bändern über den zartrosa Himmel. Sie sahen aus wie in die Länge gezogene
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