Die Keltennadel
Hand zu gleiten. Einer der Schlüssel für seine erfolgreiche Karriere bei der Polizei war seine besondere Weltsicht gewesen; er betrachtete seine Umgebung als ein Dorf. Oder, wenn es um die Stadt ging, als mehrere, sich überschneidende Dörfer. Dies ging auf seine Kindheit und Jugend in einer Kleinstadt zurück, wo praktisch jeder jeden kannte oder zumindest jemanden, der einen darüber aufklären konnte, wer dieser oder jener war – eine endliche Kette von Beziehungen. Als er in Dublin zu arbeiten begann, stellte er fasziniert fest, dass die Großstadt kein Ameisenhügel mit anonymen Einzelwesen war, sondern ein Netzwerk kleinerer Gemeinschaften, die jeweils wie ein Dorf im größeren Ganzen funktionierten. Im Lauf der Zeit beobachtete er zwar, wie dieser Gemeinschaftssinn durch Wohnsiedlungen am Stadtrand aufgesplittert wurde, aber er entdeckte auch, dass die Menschen immer noch funktionierten, als wären sie untereinander verbunden, auch wenn ihr Arbeitsplatz, ihre Freunde und die Orte, an denen sie einkauften, geographisch weit auseinander lagen. Wenn man die Aktivitäten eines durchschnittlichen Bürgers über einen kurzen Zeitraum auflistete, sah man, dass er eine Umgebung bewohnte, die in ihren Ausmaßen etwa einem Dorf entsprach, wenn auch aus getrennten Teilgebieten zusammengesetzt. War es zu einem Verbrechen gekommen, behielt man eine Karte der entsprechende Größe im Kopf, nicht eine der ganzen Stadt, des Landes oder des Planeten. Und in diesem Netzwerk von Menschen fand man normalerweise seinen Täter.
Aber Dempsey war klar, dass diese Methode in den letzten Jahren auf die Probe gestellt wurde; schuld daran war eine großstädtische Gewalt, die zunehmend wahllos ausbrach, oft begünstigt durch Drogen und Alkohol. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn O’Loughlin tatsächlich in einem Dubliner Hotel von einem wildfremden Menschen angegriffen worden wäre, wie er behauptete. Im vorliegenden Fall sagte ihm sein Instinkt, dass die eine sichere Karte die Beziehung zwischen Roberts und Lavelle war – eine frühere Bekanntschaft, ein Motiv für Rachegelüste, der Weg dazu eine Art religiöse Vendetta. Das war das Gebiet, das Dempsey am liebsten angesteuert hätte. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Er war sich seiner Sache nicht mehr sicher. Er rieb eine Stelle auf seinem Kopf, die früher einmal Haare getragen hatte. Die Befriedigung, die er einst daraus bezogen hatte, den Haaransatz zu kratzen, war lediglich noch eine sinnlose Gewohnheit. Und vielleicht war sein methodisches Vorgehen auch nichts anderes.
Wenig begeistert nahm er den Kugelschreiber wieder zur Hand und begann einen Eintrag in sein Notizbuch:
1. O’Loughlin – Interesse an Okkultem/anatomischen Proben, Drogenkonsument
2. Mathers – hat mit okkulten Dingen zu tun, eventuell Drogen
3. Roberts – hängt mit Mathers und Lavelle zusammen
4. Bonner – Vorstrafen wegen Drogen, Verbindung zu Lavelle
5. O’Neill – Drogenhändler, Verbindung zu Lavelle
6. Hüter d. 7. Siegels – ermorden Rawlings, warum will Lavelle, dass wir es erfahren?
7. Zehnter Kreuzzug – ermorden Turner, warum will Lavelle, dass wir wegschauen?
8. Lavelle – siehe 1-7
Er sah, wie alles zusammenhing. Ein Drogenring, offenbar mit so vielen Tentakeln wie ein Tintenfisch. Und waren deshalb letzten Endes zwei Frauen und zwei Männer ermordet worden – wegen Drogen?
Taaffe und er würden sich nun darauf konzentrieren müssen, Mathers zu finden und überzeugendes Beweismaterial gegen O’Loughlin zusammenzutragen. Ansonsten blieb ihnen nur, zu warten, bis Lavelle so weit genesen war, dass sie ihn verhaften konnten. Aber aus welchen Gründen? Er wollte der Drogeneinheit voraus sein. Er brauchte nur etwas Greifbares, um weiter machen zu können. Etwas, das wie bei dem Spiel namens Flaschendrehen am Ende auf den Missetäter zeigte.
Und genau dieses Etwas legte Sergeant Taaffe eine Minute später vor Dempsey auf den Tisch.
51
L avelle sah aus den Augenwinkeln Jane im Eingang zu seinem Zimmer stehen. Sie hatte die Tür halb aufgemacht, unsicher, ob sie eintreten sollte. Er klopfte der dunkelhaarigen Frau, die seine Kissen aufschüttelte, auf die Schulter, und sie drehte sich um.
»Hallo«, sagte sie zu Jane. »Kommen Sie rein, er beißt nicht. Er könnte es sowieso nicht in diesem Zustand.«
Lavelle lag in einer leicht aufgerichteten Position, aus seiner Seite lief ein Plastikschlauch, der irgendwo unter dem Bett verschwand. Ein zweiter Schlauch kam aus
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