Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
sie mit sich ziehen konnte, erkannte sie den Grund für seine Umkehr: Keine hundert Meter vor ihnen hatte ein Quintett Weißmäntel den Boulevard betreten und schnitt ihnen den Weg ab.
»Das sind die beiden!«, rief eine nichtmenschliche Stimme. »Ergreift sie!« Waffen wurden gezogen; schnelle Schritte knirschten im Schnee, als die Ordnungshüter die Verfolgung aufnahmen. Passanten gingen eilig in Deckung.
» Hinweise zu ihrer Festnahme werden mit sechstausend Gonn belohnt ...«
Ich hab deine Stimme noch nie so gehasst, Andar . Endriels Herz raste. Mittlerweile war ihr ganz und gar nicht mehr kalt, stattdessen brannte unerträgliche Hitze in ihrem Inneren und sie rechnete insgeheim damit, jede Sekunde von einem Sonnenauge durchbohrt zu werden. »Wohin jetzt?«, fragte sie und rang nach Atem.
»Die Nebenstraße da vorn!« Kai zeigte auf eine schmale Gasse zwischen einer Backstube und einer Glasbläserei. Keru war bereits dort abgetaucht. Aus dem Schatten der Gebäude winkte er sie heran. »Kommt endlich!«
Sie rannten ihm nach. Links und rechts erhoben sich mannshohe Mauern, hinter denen verschneite Gärten lagen. Wie ein langer Tunnel zog sich die Gasse ungefähr hundert Meter hin, bis sie mit der nächsten Straße kreuzte. Plakatfetzen klebten am Mauerwerk, kaum noch zu entziffern.
Endriel hatte das Gefühl, als bohre ihr jemand glühende Eisen in die Hüften. Tja, deine Kondition lässt ganz schön zu wünschen übrig. Sie blickte über die Schulter um sich zu vergewissern, dass Kai noch bei ihr war; er lief nur einen Schritt hinter ihr.
»Sackgasse!«, rief Keru plötzlich. Er hielt an und breitete die Arme aus, um Endriel und Kai aufzuhalten.
Am anderen Ende der Gasse, fünfzig Meter vor ihnen, marschierte der nächste Trupp Weißmäntel auf. Und ein alter Bekannter. Das Gerippe hob einen spindeldürren Finger und zeigte auf Endriels Kopf. »Die sind es!«, verkündete seine bizarre Stimme. »Die haben mich angegriffen!«
Endriel bremste ab; sie glitt über den Schnee und stolperte fluchend. Kai stand sofort bereit, ihr zu helfen. »Alles in Ordnung?«
Nichts war in Ordnung! Sie sah sich nach allen Seiten um: Von vorn stürmten die Weißmäntel auf sie zu und der Weg zurück wurde ihnen genau in diesem Moment abgeschnitten, als ihre Verfolger von vorhin hinter ihnen die Gasse betraten.
»Stehen bleiben, oder wir schießen!«
»Geben Sie auf, Sie haben keine Chance!«
»Hierher!« Keru war mit einem Satz auf die rechte Mauer gesprungen. Dort kauerte er und streckte seine Pranke nach Endriel und Kai aus.
»Keine Bewegung!«, schrie ein Weißmantel. Eine rote Strahlenlanze zischte durch die Luft – sie schlug genau unter Kerus nackten Pfoten ein und hinterließ einen schwelenden, verkohlten Fleck im Stein. Der Skria ließ sich fauchend auf die andere Seite der Mauer fallen. Sie hörten seine flüchtenden Schritte im Schnee.
»Keru!«, rief Endriel ihm nach und rieb sich das schmerzende Hinterteil. »Du Verräter! Komm gefälligst zurück!«
Kai half ihr auf. Noch bevor sie wieder auf den Beinen war, umringte ein Dutzend Friedenswächter die beiden. Es waren größtenteils Menschen und Skria und ein bis zum Horn vermummter Draxyll.
»Hände hoch! Keine Bewegung!«
Blitzende Schwerter richteten sich auf sie, Fokuskristalle von Sonnenaugen pulsierten in tödlichem, rotem Licht. Die Wolken aus den Mündern der Ordnungshüter wirkten wie der Atem zorniger Drachen.
Das Gerippe hinter den Reihen der Friedenswächter grinste Endriel an. »Wer lacht jetzt, Schwester?«
Sie konnte ihr Verlangen kaum zügeln dieser Kreatur das Genick zu brechen. »Du verfluchter Drecksack! Ich hätte deinen klapprigen Ar–!«
»Ich glaube, das ist nicht der richtige Zeitpunkt für soetwas«, flüsterte Kai.
»Ruhe!«, brüllte man sie an.
»Gute Arbeit, Bürger«, sagte ein Leutnant, ein stämmiger Mensch, zu dem wandelnden Skelett. »Danke für Ihre Kooperation.« Er gab ihm etwas, das verdächtig nach Geldscheinen aussah.
»Solche Leute gehören hinter Gitter«, beeilte sich das Gerippe zu sagen, ließ das Geld in der Innentasche seines Mantels verschwinden und flüchtete aus der Gasse.
Ich hab’s immer gewusst , dachte Endriel. Es gibt keine Gerechtigkeit. In ohnmächtiger Wut ballte sie die Hände zu Fäusten. Es tut mir leid, Kai.
Der Leutnant marschierte durch die Reihen seiner Leute, die bewegungslos wie Statuen dastanden und mit ihren Waffen drohten. Aus ihren Blicken konnte Endriel deutlich den Wunsch
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