Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
gesenkten Flügeln.
»Erinnern? An was?«
»Es ist wirklich passiert! Die Weißmäntel haben euch geschnappt und auf die Dragulia verfrachtet!«
Endriel starrte ihre Freundin wortlos an, während aufgestautes Blut in ihrem Hinterkopf hämmerte.
»Dann sind plötzlich diese Kerle in Schwarz aufgetaucht. Sie müssen dich und Kai irgendwie aus dem Schiff entführt haben. Sie waren auf dem Weg Richtung Osten, mit einer Landbarke. Keru hat euch gerettet, bevor die Barke explodiert ist ...«
»Moment, Moment!« Endriels Gedanken wirbelten in ihrem Kopf wie Herbstlaub. »Langsam! Nelen – wo sind wir?«
Die Yadi grinste und schwang sich in die Luft. »Warum siehst du es dir nicht selbst an?« Sie flatterte zu den Vorhängen gegenüber und zerrte eine der dunklen Stofflagen zur Seite. Ein heller Lichtstrahl durchschnitt den Raum. Endriel hob abwehrend die Hände, als die Helligkeit ihr für einen Moment in die Augen stach.
Blinzelnd sah sie sich um und erkannte ein kleines Zimmer ohne rechte Winkel. Alle Ecken waren abgerundet, was den Raum organisch wirken ließ. Die glatten Wände waren alle in einem warmem Orange gestrichen. Die einzigen Möbel waren die Schlafmatte unter ihr und eine langgestreckte Kommode an der linken Wand. Auf der anderen Seite gab es eine Tür oder einen Torbogen, verborgen durch einen Samtvorhang, und daneben ein heruntergelassenes Bambusrollo, hinter dem sich vielleicht ein Wandschrank versteckte.
Auch wenn ihr die gemütliche Atmosphäre gefiel, war ihr der Raum völlig unbekannt. Das Gefühl der Entfremdung wuchs und wuchs. »Tut mir leid, aber ich habe immer noch nicht die leiseste Ahnung, wo wir sind!«, rief sie Nelen zu.
»Es wird dir gleich einfallen, versprochen. Komm einfach zum Fenster.«
Endriel schwang die Decke beiseite und erhob sich mühsam. Anfangs noch schwach auf den Beinen, stützte sie sich an der Wand ab. »Es geht schon«, versicherte sie ihrer besorgten Freundin. Vorsichtig marschierte sie über altrosafarbene Bodenfliesen, die sich warm unter ihren nackten Füßen anfühlten. »Ich bin gespannt«, sagte sie zu Nelen, sah aus dem Fenster – und schreckte sofort zurück. Jenseits davon ging es Hunderte von Metern in die Tiefe.
Sie fasste Mut und versuchte es wieder. Unter dem Fenster erkannte sie mehrere Stockwerke eines Gebäudes, mit Mauern wie Kiesel an einem Strand, unregelmäßig und bunt. Runde Fenster waren darin eingelassen. Endriel erkannte ausladende Balkone, Terrassen mit hohen Brüstungen, Treppen aus Holz, die sich auf und ab schlängelten. Da waren Steingärten, die von Wesen in weißen Roben sorgfältig geharkt wurden, Blumenbeete und winzige Bäumchen, die wirkten wie beim Waschen eingelaufen – alles vor dem Hintergrund eines porzellanblauen Himmels mit zerrissenen Federwölkchen. Weit unterhalb sah sie zugefrorene Seen, schneegekrönte Wälder und kleine Siedlungen, die gemächlich unter ihren Füßen hinwegzogen.
Ihre Beine gaben nach, sie fiel auf den Hintern und entschied, eine Weile sitzen zu bleiben.
Nelen befestigte den Vorhang mit einer Kordel und flatterte vor Endriels entgeistertem Gesicht. »Und? Alle Fragen geklärt?«
»Himmelssanktum«, brachte Endriel hervor. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Höhenangst.
Nelen zeigte spitze Eckzähne. »Hey, du bist gut!«
Endriel antwortete nicht. Sie kehrte zur Schlafmatte zurück, zog die nackten Beine an und schlang die Arme darum. Diesen Schock musste sie erstmal verdauen.
Das Himmelssanktum: das fliegende Kloster, in dem Xeah aufgewachsen war. Eine der größten Attraktionen von ganz Kenlyn. Eine eigene, kleine Welt in den Lüften, zu der nur Anhängern der Prophetin und einige wenige Auserwählte Zugang erhielten. »Aber ... wie sind wir hierher gekommen? Wieso kann ich mich an nichts erinnern?«
Nelen hing neben ihr in der Luft. »Weil du bewusstlos warst.«
Endriel berührte ihren Hals. Sie glaubte, sich zu erinnern, wie sie dort eine spitze, kalte Nadel getroffen hatte und Dunkelheit über sie hereingebrochen war. Und dann war sie plötzlich hier, als wäre sie durch einen Nexus der Zeit gesprungen.
Nelen war heilfroh zu sehen, dass Endriels Gedächtnis langsam zurückkehrte. »Sie müssen euch betäubt und in die Barke gepackt haben. Das heißt, du hast den besten Teil verpasst. Es gab eine heiße Verfolgungsjagd und wir haben gewonnen! Leider gibt’s davon keine Aufzeichnung ...«
Endriel hob die Hand. »Hör bitte mal einen Moment auf zu plappern, ja?«
Nelens
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