Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
zittern.
Das Licht war schlecht. Endriel musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas zu erkennen. Die Schriftzeichen verschwammen hinter ihren Tränen. Als sie las, wurde es ganz still um sie herum. Keru und Nelen schwiegen, während die Weißmäntel unbeirrt ihre Runden drehten.
»Endriel,
wenn Du diese Zeilen liest, habe ich meinen sterblichen Körper schon verlassen. Keru hat Dir von meiner Krankheit berichtet und ich will Dir die Details ersparen, sie sind nicht hübsch. Du kannst ihm übrigens vertrauen. Er ist ein guter Freund. Wenn man erst einmal durch den Panzer aus Eis gedrungen ist, wirst Du in seinem Herzen eine warme Sonne finden. (Du merkst schon, ich bin auf meine alten Tage kein besserer Poet geworden.)
Ich hatte Schmerzen, ja, aber Xeah ist eine gute Ärztin und tut alles, um mir die letzten Tage so angenehm wie möglich zu machen. (Auch sie wirst Du kennenlernen, und ich glaube, Du wirst sie mögen.)
Ich habe meinen bevorstehenden Tod akzeptiert. Während der letzten Wochen gab es nur eines, das ich mir sehnlichst gewünscht habe: ein letztes Mal mit Dir zu sprechen. Aber seit Du von zu Hause fortgingst, bist Du anscheinend wie der Wind geworden und Kenlyn ist groß – alle Versuche, Dich ausfindig zu machen, sind fehlgeschlagen. Bis jetzt.
Du weißt, dass ich kein Mann der Worte bin. Und wahrscheinlich ist meine Schrift für Dich immer noch so unleserlich wie damals. Du hast sie mal für Sha Yang-Hieroglyphen gehalten, weißt Du noch? Trotzdem will ich mir alle Mühe geben, festzuhalten, was mir auf dem Herzen liegt.
Ich habe mir tausend Mal gewünscht, die Vergangenheit ändern zu können. Ich habe mir gewünscht, ein besserer Mensch gewesen zu sein als ich es war. Aber die Vergangenheit ist vergangen. Verpasste Gelegenheiten kehren selten zurück.
Wir beide haben es uns nicht leicht gemacht, nicht wahr? Ein Dickschädel traf auf den anderen. Als ich begriff, dass Du kein kleines Mädchen mehr warst, war ich ständig von der Angst erfüllt, Dich für immer zu verlieren. Ich habe einen Weg gesucht, Dich bei mir zu behalten, doch ich habe dabei vergessen, dass ich zwar Dein Vater bin, aber niemals das Recht hatte, Dein Leben zu kontrollieren. Nur Du bestimmst, wohin Dein Weg geht. Und Du hast es getan. Du hast Deinen eigenen Weg angetreten. Leider konnte ich Dir nicht dabei zusehen. Vielleicht bist Du ja die Abenteuerin geworden, die Du von Kindesbeinen an sein wolltest. Und falls nicht – vielleicht kann Dir die Korona helfen, Deinen Traum zu erfüllen.
Alles, was ich Dir sagen will, Endriel, ist Folgendes: Du magst ein Dickschädel sein, vorlaut und manchmal starrsinnig. Aber Du folgst Deinem Herzen. Und das ist alles, was ein Vater sich für seine Tochter wünschen kann. Was immer aus Dir geworden ist, in den drei Jahren die vergangen sind, seit ich Dein Zimmer betrat und Du spurlos verschwunden warst – ich weiß, ich kann stolz auf Dich sein, genau wie Deine Mutter. Du hast so viel von ihr, dass es mir das Herz bricht, daran zu denken. Aber den Dickschädel hast Du eindeutig von mir.
Verzeih mir, dass meine Angst, dich zu verlieren, größer war, als mein Verstand; ich hätte schon damals einsehen müssen, dass Du einen anderen Weg als ich einschlagen würdest. Einschlagen musstest.
Und es tut mir so unendlich leid, dass wir uns nicht ein letztes Mal sehen konnten. Glaub mir, ich hätte Dir das alles lieber selbst gesagt, als durch diesen pathetischen kleinen Brief. In diesem Leben sehen wir uns nicht wieder, aber was ist schon ein Leben? Das Universum ist unermesslich und vielleicht – eines Tages – werden wir uns wieder begegnen.
Bis zu diesem Tag möchte ich Dir nur eins sagen:
Ich liebe Dich. Bitte denk daran, wenn …«
Die Schrift verschwamm zu undeutlichen Flecken. So sehr Endriel sich auch bemühte, sie konnte die letzten Worte nicht mehr entziffern. Tropfen verwischten die Tinte.
»Endriel ...« Nelen streichelte ihre Wange. Ihr war selbst zum Weinen zumute. Sie sah Keru an und erkannte, dass der Skria sich von Endriel abgewandt hatte. Gefühle schienen nicht seine Stärke zu sein. Nelen bemitleidete ihn dafür.
Er ist tot , dachte Endriel. Er ist wirklich tot. Wie kann das sein?
Sie sah zu Keru auf, versuchte zu sprechen, doch sie konnte es nicht. Erst, nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, sagte sie: »Ich will zurück nach Hause.«
»Deswegen bin ich hier«, brummte der Skria.
4. Ein Diener des Friedens
»Frage nicht, was der Gouverneur
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