Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
letzten Endes nicht helfen konnte ...« Xeah beugte langsam den beeindruckenden Schädel. Die Mundwinkel am Ende ihres Schnabels deuteten bekümmert nach unten. »Es tut mir leid, Endriel.«
Endriel war nicht fähig, etwas zu erwidern. Ihre Gedanken wirbelten wie ein Hurrikan in ihrem Kopf, Verwirrung und Trauer kämpften miteinander. Ein vernarbter, junger Skria, der aussah wie ein Krieger, und eine steinalte Draxyll-Heilerin – was um alles in der Welt hatten sie hier zu suchen? Wieso war das Haus ihrer Familie nur noch von Fremden bewohnt? Warum waren sie noch hier, jetzt wo Yanek fort war? Und warum bildeten sie sich ein, sie zu kennen?
Sie wollte etwas sagen, doch ein Kloß in ihrer Kehle verhinderte es. Erst nachdem sie tief Luft geholt hatte, fand sie die Kraft zu sprechen: »Ich möchte jetzt das Grab meines Vaters sehen.«
Sogar Xeahs Blinzeln war langsam. »Natürlich«, sagte die Heilerin.
Die Begräbnisbäume der Familie Naguun standen hinter dem Haus: ein winziges Wäldchen von zwanzig Kastanien. Fünf Generationen. Die meisten von ihnen waren groß und stark und alt, andere wuchsen erst seit wenigen Jahrzehnten hier. Nachtwind ließ ihre Kronen rauschen und spielte mit den unzähligen Stoffbändern, die um die Äste gewickelt und von den Elementen ausgeblichen waren. Sie trugen die Namen der Toten und die Erinnerungen derjenigen, die sie zu Grabe getragen hatten. Die Bäume waren mit genügend Abstand zueinander angepflanzt worden, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig Wasser und Sonnenlicht stahlen. Dennoch war deutlich, dass sie eine Einheit bildeten, eine Familie.
Ein Baum war besonders jung, seine Äste noch dünn und biegsam. Wie ein Kind, das gerade zur Welt gekommen war, stand er im Schutz der anderen. Die Bänder der Erinnerung strahlten in herrlichen Farben. Es waren nur drei.
Endriel ließ Keru, Xeah und sogar Nelen zurück. Die Yadi hing für einen Augenblick ratlos in der Luft. Sie wollte ihr folgen, doch Xeah sagte: »Lass sie allein, mein Kind. Es ist besser, glaub mir.«
Nelen wollte widersprechen, doch dann sah sie ein, dass die Draxyll Recht hatte. Mit deren Einverständnis landete sie auf Xeahs Schulter. Zusammen mit ihr und Keru sah Nelen zu, wie Endriel zu den Begräbnisbäumen lief. Niemand sprach ein Wort. Der Innere Mond zog stumm seine Bahn über dem Hof.
Vor den Bäumen angekommen, fiel Endriel auf die Knie. Sie hatte das Gefühl, als habe ihr die kurze Reise alle Kraft ausgesaugt. Ihr Herz fühlte sich leer an, wie ausgehöhlt.
Yaneks Baum stand direkt neben dem ihrer Mutter. Endriel erinnerte sich deutlich an das Gefühl des Schutzes, das sie an diesem Ort immer empfunden hatte. Manchmal war es ihr so vorgekommen, als könne sie aus dem Wispern der Blätter die Stimmen ihrer Familie heraushören, als ob ihre Seelen sich mit den Bäumen vereinigt hatten. Heute hörte sie nichts außer dem Rascheln der Blätter.
Sie streckte die Hand aus, um die Stickereien auf den Erinnerungsbändern zu lesen, doch alles zerfloss hinter einem feuchten Schleier.
»Hallo, Yanek«, sagte sie leise. »Ich bin wohl ein bisschen spät dran. Es tut mir leid, dass wir uns nicht mehr sehen konnten. Ich habe ...« Ihre Stimme brach, doch sie versuchte es erneut: »Ich habe oft an dich denken müssen, weißt du?« Sie zog die Nase hoch. »Ich habe mich verändert in den letzten paar Jahren. Und du bestimmt auch. Vielleicht ... vielleicht hätten wir mittlerweile sogar miteinander auskommen können, ohne uns gegenseitig anzuschreien ... Ich ...« Sie wollte weitersprechen, doch sie konnte es nicht. Ihr Körper bebte, als sie nach Atem rang. »Warum hast du es mir nie gesagt, als ich noch bei dir war?«, flüsterte sie. »Warum musstest du damit solange warten, bis du tot bist, du alter Idiot? Warum ... ?«
Nelen, immer noch auf Xeahs Schulter, merkte gar nicht, dass sie selber weinte. Die alte Draxyll blieb bewegungslos stehen und hielt die Augen geschlossen. Keru drehte ihnen den Rücken zu und kehrte wortlos ins Haus zurück.
6. Ein Soldat des Kaisers
»Manches offenbart sich nur im Schatten.«
– Sprichwort
Er hatte ihn gehabt! Fest in seinem Griff umklammert!
Natürlich hatte Novus sich gewehrt, doch er hatte keine Chance gehabt, unbewaffnet wie er war. Aber dann waren diese hässliche Menschenfrau und die verfluchte Yadi aufgetaucht. Als Ryl-Xama wieder zu sich gekommen war, hatte er sich in Ketten wiedergefunden. Er war schon bereit gewesen, das Gift zu schlucken und für die
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