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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Klee
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ich mit der Stadtwache wieder und lasse sie die Türe eintreten, Euer Haus anzünden und Euch einsperren.»
    «Genug! Genug! Ich geb dir das Balg!» Die Tür öffnete sich, und eine gewaltig fette, ungepflegte Person schaute heraus im Licht einer Talgkerze. Sie stank nach billigem Wein. Marius stieß sie beiseite. Im schwachen Licht der Kerze sah er eine Menge Leiber auf der Erde liegen, Kinder in den verschiedensten Größen.
    «Anzeigen sollte man dich! So versorgt man doch keine kleinen Kinder!», schrie Marius außer sich.
    «Erbarmen, Moussen!», jammerte die Milchamme. «Von irgendwas muss man ja leben. Es geht ihnen nicht schlecht bei mir, ich schwör’s! Das da, das ist deines oder jedenfalls das, was die Frau mir gebracht hat vor zwei Nächten. Aber das Geld gebe ich nicht wieder heraus!»
    «Behalt das Geld!» Marius ging zu der Ecke, die sie ihm gezeigt hatte. Da lag in einem Weidenkorb auf einem Haufen Lumpen ein männlicher Säugling. Er schlief und sah recht zufrieden aus. Als Marius ihn hochnahm, fing er zu plärren an, tief und laut.
    «Gerade war er eingeschlafen, dieser Schreihals. Nimm ihn bloß mit!»
    Marius wiegte das Kind ungeschickt in seinen Armen. «Mein Sohn, mein Sohn! Ich erkenne seine Stimme!»
    Den ganzen Heimweg lang brüllte der Säugling. Über ihnen gingen die Fensterläden auf, und die Leute schimpften.
    «Ruhe, verflucht nochmal!»
    «Bringt das Balg zum Schweigen, oder ich stopfe ihm den Hals!»
    «Habt ihr kein Bett?!»
    «Was soll denn der Lärm?»
    «Kinderquäler!»
    Aber Marius ließ sich nicht stören. Er tanzte und wiegte das Kind und schrie: «Hört ihr ihn? Das ist mein Sohn! Hat er nicht eine kräftige Stimme?! Das wird mal ein großer, starker Mann!»
    «Wir hören ihn!», hieß es. «Haut bloß ab.»

20.
    Am frühen Morgen hatte sie die Durance erreicht, den unsichtbaren Fluss. Das Wasser hatte sich weitgehend zurückgezogen. Es war in der Sommerhitze verdunstet. Was vom Fluss übrig blieb, das strömte unter der Erde, von wo aus es die Quellen versorgte. Der Schiffsverkehr war beinahe eingestellt, die Treidler arbeitslos bis zu den Herbstgewittern, die das Becken wieder auffüllen würden. Friedlich und matt lagen die Flussarme da, die noch im Frühjahr Häuser, Wagen und eine ganze Schafherde verschluckt hatten. Eine Anreihung von harmlosen Pfützen in einer Wüstenei aus schlammgrauen, rundgewaschenen Steinen, dazwischen Inseln von schnell aufgeschossenen Kräutern, Gräsern, Ziest und Blutweiderich. An den Ufern streckte der wilde Fenchel verdorrte Stängel in die Luft mit Kronen von gelblich braunen Samen.
    Ein Ziegenhirte war schon da und ließ seine Schützlinge saufen.
    Danielle folgte dem Trampelpfad und den Karrenspuren zur Furt. Sie zog ihre Sandalen aus, gürtete den Rock hoch und watete hindurch.
    Am anderen Ufer warf sie einen Blick zurück. Pertuis lag auf seinem Hügel mit seinen dicken Mauern und seinen Türmen und warf ihr einen letzten, hochmütigen Blick zu. Das schmerzhafte Ziehen in der Brust, das dumpfe Bohren und Pochen drängte sie zurück, darin hatte sie ja Übung. Die grau ansteigende Felslandschaft der Haute Provence ließ sie hinter sich. Vor ihr lag eine Weite, die den Schmerzbesänftigte, ein Meer von Zypressen wogte sanft in einer Brise. Das ockerfarbene Gras war mit Schatten getupft und gestreift. Sie sog tief die harzige Luft ein, schulterte ihren Knappsack und schritt aus.
    ‹Ich habe noch weniger als das letzte Mal›, dachte sie. ‹Keinen Mantel, keine Decke, nichts zum Feuermachen, keine festen Schuhe, keinen einzigen Sou.› Aber sie fühlte sich leicht dabei. ‹Ja, diesmal ist es wirklich ein neuer Anfang. Letztes Mal dachte ich, es wäre einer, aber es war keiner. Ich hatte noch Stolz und noch immer Wünsche und Träume. Ich war noch voller Bitterkeit gegen diejenigen, die mir unrecht getan hatten. Aber jetzt bin ich ganz und gar reingewaschen. Ich habe meinen Feinden vergeben. Ich will nichts und wünsche nichts mehr. Von der Natur lasse ich mich nun treiben, wohin sie will. Das muss der Zweite Zustand der Seele sein, von der Marguerite Porete geschrieben hat: Die Verachtung von Reichtum, Lustbarkeit und Ehre. Nicht mehr trachten nach Gehorsam und Gefallen. Von nun an will ich nur noch Werke der Liebe vollbringen um der Liebe willen und mich selbst ganz loslassen.›
    Da war eine lästige kleine Stimme in ihrem Kopf, die fragte: Aber genügt dir das, diese allgemeine Liebe, so mild und ohne Gestalt? Was ist denn die

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