Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Zeitpunkt betreten, als die Täter samt Beute
längst über alle Berge waren!«, fuhr Bruder Hilpert mit Blick auf Ansgar und
den Steinsarkophag fort.
»Dem ist in der Tat so gewesen!«, antwortete der
Chorherr mit zerknirschter Miene, woraus Bruder Hilpert folgerte, dass dieser
die Wahrheit sprach und folglich keine Ahnung hatte, wie nahe er den geraubten
Reliquien war.
»Woraus folgt, dass Ihr den Frevel bereits mehrere
Stunden vor dem von Euch ursprünglich angegebenen Zeitpunkt bemerkt haben
müsst.«
»Das stimmt.«
Als ginge ihn das Jammerbild von einem Chorherrn zu
seiner Linken überhaupt nichts an, wandte sich Bruder Hilpert mit
demonstrativer Gelassenheit dem Hochaltar zu und ließ den Blick auf seinen
schattenhaften Umrissen ruhen. »Und warum habt Ihr mir das nicht schon während
unserer ersten Unterredung gesagt?«
Der Chorherr antwortete nicht sofort, sondern
verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging zwischen den nächstgelegenen
Pfeilern auf und ab. Er wirkte mitgenommen, wie unter einer schweren, kaum zu
ertragenden Last. Keine Spur mehr von dem adelsstolzen Chorherrn, der er bis
vor Kurzem noch gewesen war. »Eine berechtigte Frage!«, murmelte er, als Bruder
Hilpert schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete.
»Und wie sieht es mit der Beantwortung dieser Frage
aus?«
Fredegar von Stetten blieb abrupt stehen und wandte
sich Bruder Hilpert zu. Sein Gesichtsausdruck, aus dem die pure Verzweiflung
sprach, sagte alles, mehr als die Worte, die ihm offensichtlich nicht über die
Lippen wollten. »Ich möchte beichten, Bruder Hilpert«, platzte er schließlich
in die bedrückende Stille hinein. »Jetzt gleich.«
*
»Bei allem Respekt, Bruder: Wer sagt Euch, dass dieser
Blutsauger nicht bei nächstbester Gelegenheit Fersengeld geben wird?«, ließ
Ansgar seinem Unmut freien Lauf.
»Hast du etwa gelauscht?«, gab Bruder Hilpert zurück.
»Natürlich nicht.«
»Das will ich dir auch geraten haben!«
Der Blondschopf setzte ein schuldbewusstes Lächeln
auf. »Und was jetzt?«, fragte er und warf Bruder Hilpert einen respektvollen
Seitenblick zu.
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein möglichst
detailliertes Geständnis ablegst, findest du nicht auch?«
Ansgar nickte. »Gewiss doch!«, willigte er ein,
während er sich instinktiv nach potenziellen Lauschern umsah. »Wann und wo
immer Ihr wollt, Bruder!«
Bruder Hilpert lächelte verschmitzt. »Dein Eifer in
allen Ehren, aber ich denke, du hebst dir deine Generalbeichte für später auf!«
Ansgar runzelte die Stirn, zog die Schultern hoch und
kehrte die Handflächen nach außen. »Ganz wie Ihr wollt, Bruder!«, willigte er
ein. »Wo wollt Ihr eigentlich hin?«
»Wirst schon sehen!«, hielt sich Bruder Hilpert
bedeckt, trat auf die Gasse hinter dem Neumünster und bedeutete dem
Blondschopf, ihm zu folgen.
Doch er kam nicht weit. Aus der Gasse, die seinen und
Ansgars Weg kreuzte, war das Geräusch herannahender Wagenräder zu hören. Und
dann war es auch schon passiert. Wigbert und Krätze bogen um die Ecke, Ersterer
zu Tode erschrocken, Letzterer total verblüfft.
Der Rotschopf, im Domviertel als ›Krätze der
Müllkutscher‹ bekannt, reagierte als Erster. Schneller noch als Ansgar, der die
Szene mit ungläubigem Staunen verfolgte.
Bevor Hilpert wusste, wie ihm geschah, ließ der
Müllkutscher die Wagendeichsel los, machte einen Ausfallschritt und ließ einen
gellenden Pfiff ertönen, dessen Echo weithin hörbar durch die Gassen hallte.
Was folgte, war der reinste Albtraum. Zumindest kam es
Bruder Hilpert im Nachhinein so vor. Kaum war der Pfiff verklungen, da
erwachten die umliegenden Gassen zum Leben. Aber nicht so, wie dies im
Morgengrauen normalerweise geschah.
Der Albtraum begann nicht sofort. Er begann
schrittweise. Wie ein schleichendes Gift, das sich in den Körper seines Opfers
stiehlt. Und die Sinne auf einen Schlag lähmt.
Zuerst war da nur ein Rumoren, mitunter ein Pfiff. Als
nächstes das Geräusch von Holzklappern. Vieler Holzklappern. Bruder Hilperts
Schätzung nach mussten es mindestens ein halbes Dutzend sein.
Oder noch mehr.
Dann das Geräusch von Schritten. Wenn auch nicht so,
wie es sich anhört, wenn Stiefelabsätze auf Straßenpflaster treffen. Nein,
dieses Geräusch war anders. Eher ein Schlurfen, Humpeln, Trippeln oder
Watscheln. Als ob eine Legion von Kriechtieren im Anmarsch wäre.
Allein, dies waren keine Reptilien. Dies waren die
Gefährten von Krätze, die Verfemten aus dem
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