Die Kinder aus Nr. 67
sich nicht umdrehte. Er zog den Koffer unbarmherzig hinter sich her. Es holperte und klapperte darin. Hopp, hopp, hopp, ging's die Treppe aufwärts. Die Frau stand schon im fahrbereiten Zug und riß ihm dem Koffer aus der Hand. »Du bist ein lieber, guter Junge«, sagte sie, »warte einen Augenblick.« Nun würde sie ihm gleich etwas geben. Sie stieg aus und kam auf ihn zu. Dann packte sie seinen Kopf mit beiden Händen, tätschelte ihn, beugte sich über ihn und gab ihm einen lauten, herzhaften Kuß.
»Ein wirklich hilfsbereiter, netter Junge bist du. Ach, wenn nur alle Jungen so wären.«
Erwin war so erschrocken und entsetzt über den Kuß, daß er gar nichts sagen konnte. Er vergaß ganz, um eine Kleinigkeit zu bitten. Der Schaffner rief bereits: »Einsteigen!« Die Dame sprang mit einem großen Satz in den Zug und verschwand. Erwin rannte enttäuscht wieder nach unten. Er lief dabei einem eiligen Herrn in den Weg.
»Junge!« schrie er, »schnell, schaff mir die Tasche zum Zug hinauf. Ich komme sofort nach.« Er schwenkte sie vor Vergnügen, denn diese Tasche war leicht. Aber hol's der Teufel. Die Tasche war nicht verschlossen und sprang auseinander. Büchsen, Dosen, Kämme und Zahnbürste, Taschentücher und Kragenknöpfe kullerten über den Perron. Erwin war ganz verzweifelt. Er hielt die stürzenden Gegenstände fest und rutschte auf dem Boden herum, um alles wieder zusammenzusuchen. Schon hörte er eine polternde Stimme hinter sich. Der Besitzer der Tasche stand hinter ihm. Er fluchte und schimpfte entsetzlich. Erwin erwartete jeden Augenblick, daß er ihn ohrfeigen würde. Zum Glück mischte sich ein alter, freundlicher Träger ein.
»Man gibt auch keine unverschlossenen Taschen aus der Hand. Schließlich sind sie doch dazu da, daß sie verschlossen werden.«
Ein anderer Träger aber sagte: »Das kommt davon, wenn man den Kindern was anvertraut.« Erwin war wütend. Konnte er etwas dafür, daß die Tasche unverschlossen war. In Zukunft würde er immer erst fragen. Jetzt aber machte erlieber, daß er weiterkam. An Bezahlung war natürlich gar nicht zu denken.
Die nächsten beiden Male hatte Erwin jedoch mehr Glück. Und als er sich am Abend mit Paul und Willi an der Haltestelle des Autobusses wieder traf, hatte er zwanzig Pfennige. Das war der Anfang. Paulchen hatte nur fünfzehn Pfennige, ünd Willi sagte, er hätte gar nichts. Aber Willi lutschte Bonbons.»Wo hast du denn die her?« Erwin war plötzlich mißtrauisch.
»Hab' ich geschenkt bekommen.«
»Ach wat, lüg doch nicht. Haste gekauft. Von unserem Verdienst gekauft.«
Aber da wurde Willi ganz frech. »Und wenn ich sie gekauft hätte«, schrie er. »Is mein gutes Recht. Wenn ich Geld verdiene, kann ich damit machen, wat ich will. Det mit dem Fußball ist doch nischt.«
Da schlossen sie Willi von ihrem Bund aus. Paul und Erwin aber taten sich zusammen. Sie steckten ihr Geld in einen alten Schuhbeutel und beschlossen, ihn zur Sicherheit zu vergraben. In einer Ecke des Hofes, dicht am Eingang der Kellertür, waren neben dem Kehrichteimer einige Pflastersteine lose. Die kratzten sie vollends heraus und scharrten darunter eine Grube. Dorthinein versenkten sie das Geld. Dann klopften sie die Pflastersteine wieder schön fest. Es konnte wirklich keiner etwas sehen. Kaum waren sie fort, kam die Portiersfrau und stellte die Kübel darüber. Jetzt war das Geld in Sicherheit.
Erwin und Paul liefen nun jeden Tag zur Arbeit. Daheim im Hinterhaus wunderte man sich, wo die Jungen den ganzen Tag über waren. Die anderen Jungen brummten. Sie nannten Erwin und Paul Spielverderber. Bei keinem Straßenkampf wollten sie mehr mitmachen. Immer rannten sie fort und blieben verschwunden.
Sie standen indessen vor Kinos und Bahnhöfen. Sie rissen die Türen der vorfahrenden Autos auf. Sie schleppten Koffer oder boten sich zu Botengängen an. Es ging sehr langsam mit dem Geld. An manchen Tagen brachten sie nur einen Fünfer mit nach Haus.
»Wir müssen uns was Neues ausdenken«, sagte Erwin. Die Träger auf dem Bahnhof waren schon aufmerksam geworden. Sie schimpften über die Jungen. »Das läuft hier herum und nimmt ehrlichen Arbeitern das Brot weg.«
»Wir müssen uns was Neues ausdenken.« Paulchen war der gleichen Meinung. Sie versuchten es mit Schuhputzen neben dem Fahrkartenschalter. Zum Putzen nahmen sie ihre Mützen. Wahrhaftig, das war kein schlechter Gedanke gewesen. Während die Leute Fahrkarten
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